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  • sarahraich

Weiße Jungs



Es begann als Geraune in Social Media, aber endlich ist es so weit, es regnet Feuilleton-Artikel und Instagram-Storys und Reels. HALLELUJAH! Ein Buch wurde geschrieben, „Noch wach?“ heißt es, von Benjamin von Stuckrad-Barre, der früheren Edelfeder des Springerkonzerns und einem Profi darin, das eigene Leben in Romanform zu gießen, die eigene Biographie in einem Ausmaß zu vermarkten, das in Deutschland vielleicht noch ein Hape Kerkeling schafft.

Während allerdings Hape Kerkeling die Leute im Feuilletons müde Lächeln lässt, vielleicht schreibt man mal darüber, wie krass erfolgreich der halt ist, sind gerade diese Feuilletonisten alle aus dem Häuschen. Stuckrad -Barre! Da gibt es Wirbel, sie haben mächtig was zu sagen, so scheint es, füllen Feuilletonaufmacher, Interview, Instagram-Story, Seite Drei, Glosse, Rezension. Die eherne Regel, dass man Text X nicht machen kann, weil ja schon was Ähnliches im Blatt war vor kurzem? Ausgehebelt. Stuckrad-Barre hat geschrieben. Der Rummel läuft.


Nun kommt unerwartet Oliver Reese des Weges, der Intendant des Hauses, und es beginnt ein Gespräch über seine japanische Brille, die, so sagt er, handgeschnitzt sei und die er in Kopenhagen eher zufällig entdeckt habe. Das gäbe, schriebe man für eine Zeitung eine Reportage über Benjamin von Stuckrad-Barre, eine ganz brauchbare Szene. Aber weil die Brille nicht nur japanisch und handgeschnitzt ist, sondern auch noch gelb, erinnert sie einen wieder daran, dass alles mit allem zusammenhängen kann und dass einem schon wieder nicht ganz klar ist, ob man sich gerade auf der Vorder- oder auf der Hinterbühne dieser Inszenierung befindet, oder noch mal ganz woanders.


Man kann über Texte schreiben und man kann sie für sich sprechen lassen. Um aber Missverständnissen vorzubeugen, ein wenig Einordnung. Der zitierte Absatz ist aus der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung (21.4.2023) von Cornelius Pollmer über Benjamin von Stuckrad-Barre. Der Text folgt auf einen Feuilleton-Aufmacher. Und irgendwie geht es auch um dieses Buch, in dem es um Machtmissbrauch geht. Und um #metoo. Darüber kann man wunderbar Bücher schreiben und Zeitungsartikel. Und das haben in den letzten zehn Jahren schon einige Menschen getan. Sehr gut, sehr ausführlich, sehr klug und manches auch literarisch wertvoll. Und in diesen Kontext hätte man "Noch wach?" einordnen können. Man könnte zum Beispiel Bezug nehmen auf den Roman von Mareike Fallwickl: „Das Licht ist hier viel heller“ lesen, erschienen 2019 in der Frankfurter Verlagsanstalt https://www.genialokal.de/Produkt/Mareike-Fallwickl/Das-Licht-ist-hier-viel-heller_lid_42753907.html. In dem Buch schreibt ein Autor einen Roman über #metoo, aus der Perspektive einer Frau,einfach um den Erfolg abzugreifen - und macht damit den großen Reibach, ohne das Strukturelle zu thematisieren, oder ernst zu nehmen.

Davon, welche guten Texte es zu diesem Thema schon gab, hört man aber dieser Tage kaum etwas. Obwohl das hätte sehr interessant werden können, ja, vielleicht hätte es sogar eine Art Erkenntnisgewinn geben können.

Oder geht es darum gar nicht? Jedenfalls hört man stattdessen viel von diesem mächtigen Mann, der über andere mächtige Männer schreibt und ja, irgendwie auch über Frauen, und denen sind wirklich blöde Sachen passiert, aber das ist vielleicht nicht so wichtig, jedenfalls so nebensächlich, dass es in einigen Texten gar nicht vorkommt, dieses „Frau“. Ja, tatsächlich hat es die Süddeutsche Zeitung geschafft, einen Text über einen Autor zu veröffentlichen, der ein Buch über missbrauchte Frauen geschrieben hat - und es kommt keine Frau vor. Auf einer ganzen Zeitungsseite. Stattdessen: siehe oben das Zitat.

Und so ist der Text von Cornelius Pollmer ein Destillat der Kultur- und Medienbeiträge der letzten Tage: Weiße Jungs, die darüber schreiben wie weiße Jungs über weiße Jungs schreiben und auch ein bisschen über sich selbst und darüber, dass sie dabei cool aussehen, auch ein bisschen lächerlich vielleicht, aber das ist ja auch schon wieder cool. Natürlich könnten hier noch mehr Texte hinzugezogen werden. Nur wozu? Ja genau genommen sind es nicht nur die letzten Tage, ja, vielleicht hat Cornelius Pollmer das Destillat überhaupt zu den letzten 25 Jahren männlicher weißer deutscher Kultur geschrieben, das man vielleicht so zusammenfassen könnte: „Wir haben nichts zu sagen, irgendwie wissen wir das auch und natürlich könnten wir auch einfach mal die Klappe halten und zuhören, ABER WO BIN DENN DA ICH?’ Nein, das geht natürlich nicht. Deshalb erklären wir es einfach für uncool, wirklich etwas zu sagen zu haben (BETROFFENHEITSLITERATUR!), ignorieren diesen ganzen INHALT und schreiben lieber schick zurechtgeschwurbelte inhaltsbefreite Ironien über diese ganzen Ebenen und so weiter – aber so genau legen wir uns auch nicht fest. Denn das wäre ja uncool.“

Und natürlich könnte man sie jetzt einfach lassen, diese Jungs, die auch gern mal 50 sind, aber dennoch noch jung, irgendwie (RINGELSHIRT!) und sich mit sich selbst beschäftigen. Wir sind ja ein freies Land.

Nur leider saugen sie allen anderen den Sauerstoff namens Aufmerksamkeit ab, blasen uns die Hirne voll mit ihren „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt fand er die Geschichte seiner Erfahrung.“ (sic) Sätzen – und wir kaufen die Bücher, die Zeitungen, schauen die Fernsehsendungen. Denn die Verlage dieser Bücher, Zeitungen, die Sender, ballern uns ihre Marketingbudgets um die Ohren, begleitet vom Geraune, dass sich die Qualität am Ende ja doch durchsetzt – seht ihr, schon ein Bestseller.

Das Feuilleton und die Medienseite der letzten Tage könnte unter der Überschrift laufen: Please Stärke Stuckrad-Barre. Das Thema des Buches, der Machtmissbrauch, die Ausbeutung von Frauen, gerät so sehr zur Tapete, dass die Worte fehlen, das Ausmaß dieser Selbstentblößung zu beschreiben. Um es mit Herta Müller zu sagen: Es ist immer derselbe Onkel. Es ändert sich nichts.

Deshalb bleibt uns genau eins: Kauft dieses Buch nicht. Lest diese Texte nicht. Schaut diese Sendungen nicht. Ihr verpasst nichts. Es ist alles nur Fassade, der Kaiser trägt keine Kleider. Der Kaiser ist nackt. Er ist noch nicht einmal ein Kaiser. Er ist nur ein Junge.

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