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Die Kröte

„Ein bisschen mehr nach rechts“, sie nickte Mirjam mit einer knappe Bewegung zu. Gemeinsam hoben sie den silbrig gealterten Teakholztisch wieder an und tippelten an den Rand der Natursteinterrasse. Unter dem Haselstrauch blieb Hilda stehen. Mirjam ging noch einen Schritt weiter, dann wieder einen zurück, so dass die Tischkante parallel zum Mäuerchen der Terrasse war. Sie schauten sich kurz in die Augen. Hilda nickte wieder und sie setzten den Tisch ab. Dumpf schlugen die Holzbeine auf dem Stein auf.

Mirjam blickte hoch. Der Strauch war ein Drehhasel. Seine Zweige hingen in verwirrten Bahnen über dem Tisch, das Laub warf ein Muster aus Schattenflecken darauf.

Sie hörte ein Flattern, fast wie Flügelschlagen. Hilda warf die Tischdecke über das Holz. Jetzt konnte Mirjam die Unebenheiten im Stoff erkennen. Knötchen, die hier und da aus dem Weiß hervorstießen. Ihre Finger berührten das Gewebe, bevor sie nachdenken konnte. Die Knubbel fühlten sich vertraut an, ein Bild blitzte in ihr auf. Die Kröte. Ihre Haut war trocken und samtig gewesen, ganz anders, als sie es erwartet hatte. Die Augen waren ganz und gar golden gewesen. Sie hatte sich eine Kröte schleimig vorgestellt. Ihre Mutter war so angeekelt vor diesen Tieren gewesen.

An dem Tag hatte sie ein geblümtes Kleid getragen. Sie sah das Muster noch vor sich, wie die Blüten sich im Faltenwurf verbogen. Vielleicht war es auch ihr Geburtstag gewesen? Sie hatte im Sonnenlicht gesessen und die Kröte gestreichelt. Und sie war sitzen geblieben, ihre verzauberte Freundin. Hatte die Kinderhand ihre Warzen befühlen lassen. Nur ihr Hals hatte sich rhythmisch aufgebläht und wieder zusammengezogen. Sie hatte der Kröte auch etwas erzählt. Was es gewesen war, konnte sie nicht mehr erinnern. Aber sie konnte noch das Glück fühlen, dass für einen Moment in ihr ausgeruht hatte.

Dann hatte sie die weißen Würmer entdeckt. Wie ein beginnendes Feuer züngelten sie aus den Nasenlöchern der Kröte hervor.

„Handgewebt“ Hildas Gesicht leuchtete bei dem Wort auf. „Aus Rumänien.“

„Ah“ sagte Mirjam. Sie war sich nicht sicher, ob ‚aus Rumänien’ heißen sollte, dass Hilda ein Volk in Schwierigkeiten unterstützte, oder ob es eine Art Entschuldigung dafür war, dass die Decke nicht so teuer war, wie das Wort handgewebt vermuten ließ. Vielleicht bedeutete es auch beides auf einmal. Sie fühlte sich mit Hilda oft, wie beim Schauen der englischen Serien. Immer wieder machte sie heimlich die Untertitel an, weil sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich verstand, was dort vor sich ging.

„Nein“ sagte Hilda, ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, ihr Zeigefinger tippte auf ihre Lippen. „Nein, das wird so nicht gehen.“ Ihr Blick huschte hin und her, blieb für einen Augenblick an dem Drehhaselstrauch hängen und glitt dann wieder zum Himmel, an dem keine Wolke stand. „Am Nachmittag knallt die Sonne ja genau hier rein.“ Hildas Hand schlug beim Wort „hier“ eine Scharte in das Nichts vor ihr. Dabei schüttelte sie ihren Kopf. Die blonden Haare bewegten sich wie eine einzelne Masse. Mirjam hätte sie gern angefasst. Sie sahen so weich aus. „Wo möchtest du den Tisch denn hinhaben?“

Hilda lachte. „Ich weiß, ich bin eine schreckliche Pedantin.“ Sie ließ ihre Lider ein paar Mal auf und zu gehen wie die Schlafaugen einer Babypuppe, wenn man sie ein bisschen zu fest schüttelt. „Ich möchte einfach nur, dass wirklich alles perfekt ist für nachher.“ Sie zog die Mundwinkel herunter, was sie ein wenig wie einen Fisch aussehen ließ, fand Mirjam. Sie nickte.

„Ich glaube da, unter den Birken! Das wäre doch ein wirklich schöner Ort.“ Sie streckte ihren Zeigefinger aus. Mirjam schaute an das andere Ende des Gartens, wo die Wiese von Birken verschattet wurde und dann in Wildnis überging. Etwa 50 Meter waren es bis dahin.

„Ist Thomas denn gar nicht hier?“ fragte sie.

„Der kommt später“ antwortete Hilda. Sie presste die Stimme zwischen den Zähnen hindurch, den Tisch hatte sie schon angehoben. „Komm, jetzt fass mal mit an.“ Mirjam nahm ihr Ende des Tisches und begann rückwärts in Richtung der Treppenstufen zu gehen. Die Tischplatte zerrte an ihren Armen, während der hölzerne Fuß immer wieder gegen ihre Schienbeine schlug. Die Steinstufen waren uneben. Der Tisch schob sie mit seinem Gewicht die Treppe hinab. Was wäre, wenn sie eine Stufe verpasste und hinabstürzte. Ob der Tisch samt Tischtuch sie unter sich begraben würde. Sie stellte sich vor, wie die Tischkante in ihren Leib fuhr und sie zweiteilte.

„Langsam!“ ihre Stimme klang erschrocken. Das Leinen rutschte unter ihren Fingern auf dem Holz hin und her. „Langsam?“ Hilda lachte scharf auf. „Ich kann das Ding kaum noch halten!“ Mirjam spürte, wie das Gras an ihrem Knöchel kitzelte. Sie hatte die Stufen hinter sich. Mit ein paar schnellen Schritten ging nun Hilda die Stufen hinab und schaute Mirjam in die Augen. „Geht doch“, sagte sie. Dann schritten sie beide im Krebsgang über den Rasen, den Tisch zwischen sich hin und her schaukelnd, auf die Birken und das dahinter beginnende Gestrüpp blickend.

„Halt!“ rief Hilda sobald die Tischplatte vollständig im Schatten war. Über ihnen rauschte eine Brise durch die Birkenblätter. Mirjam spürte den Drang, in die schmiegsamen Kronen zu klettern und sich dort oben vom Wind schaukeln zu lassen. Aber sie wusste, die jungen Bäume würden ihr Gewicht nicht aushalten. Hilda strich über die Decke. Dreimal bewegten sich ihre Hände über den Stoff, sie begann in der Mitte und ließ sie dann auseinandergleiten. Ein helles, fast unhörbares Surren begleitete ihre Bewegungen.

Sie betrachtete die leere Fläche vor sich, dann breitete sie ihre Arme auseinander und drehte sich zu Mirjam, als wolle sie sie umarmen. „Ich hol schnell die Blumen“ sagte sie und ging mit einem Tempo zum Haus, das geschäftig wirkte, aber trotzdem noch Raum für Eleganz ließ, fand Mirjam. Sie bewunderte ihre Freundin für diese mühelosen Gesten. Vielleicht war es auch mehr ein Staunen, dass so etwas möglich war. Dass es auch das gab, das perfekte Maß an Eile.

Sie stand an dem leeren Tisch. Es schien ihr, als vergäße sie eine wichtige Aufgabe, als brächte sie den Zeitplan nun endgültig ins Wanken, weil sie einen zentralen Schritt des Ablaufs nicht jetzt vornahm. Es wollte ihr nur einfach nicht einfallen, was das war. Sie zupfte an der Tischdecke, gerade so wenig, dass sie nichts daran veränderte. Sie schaute sich auf der Wiese um. Stühle. Stühle brauchten sie auf jeden Fall.

Das Holz der Sessel war warm und trocken. Sie hatte gedacht, sie könne an jeder Seite einen tragen, den Arm unter die Rückenlehne gehakt. Aber sie hatte das Gewicht des Holzes unterschätzt. Nach wenigen Metern musste sie einen Stuhl stehen lassen und trug den verbleibenden vor sich her bis zum Tisch. Auf halbem Weg zurück kam ihr Hilda entgegen. In den Armen hatte sie eine Schale, groß wie ein Gänsebräter. Darin waren Hortensien und Efeublätter drapiert. Hilda stellte das Gefäß in die Mitte des Tisches und ließ den Blick auf ihrer Zusammenstellung ruhen. Sie lächelte. Mirjam fragte sich, ob Hilda damit aufgehört hatte, als sie alleine war, oder ob sie auf dem ganzen Weg still für sich gelächelt hatte.

Es waren rosafarbene Blüten und hellgrüne, umrahmt vom Dunkel des Efeus. „Wenn wir da jetzt noch die silbernen Kerzenleuchter von meinen Eltern hinstellen, links und rechts...“ Ohne den Satz zu beenden, drehte sie sich um und ging wieder in Richtung des Hauses. Vielleicht sprach sie den Satz auch zu Ende, nur konnte Mirjam sie nicht mehr hören.

Sie fand, die Hortensien hatten etwas Bleiches, trotz ihrer Farbigkeit. Fast, als seien es Kunstblumen, von einer feinen Staubschicht überzogen. Sie wusste, Hilda würde niemals Kunstblumen verwenden. Ganz sicher nicht. Kunstblumen waren für ihre Freundin so wie Instantkaffee und Tiefkühlkuchen. Sie hatten keinen Platz in einem echten Leben, einem, das zählte. Sie wusste, die Blumen mussten echt sein. Trotzdem nahm sie eines der Blütenblätter zwischen ihre Finger. Sie spürte kaum etwas, so als hätte sie auf ihren Nervenenden eine zentimeterdicke Hornhaut. Sie führte das Blatt an ihre Lippen. Die Berührung durchzuckte sie. Jetzt fühlte sie die Glätte. Eine abweisende Schicht, undurchdringlich. Sie musste wieder an die Kröte denken, an die Augen, golden und unnahbar. Die länglichen Pupillen gleichgültig auf der Welt ruhend. Doch dann hatte sie die Würmer entdeckt und sich gefragt, ob es nicht doch Verzweiflung war, mit der das Tier an ihr vorbeischaute.

„Weiß oder rosa?“ Hilda streckte ihr zwei schwere Leuchter entgegen. In einem steckte eine rosafarbene Kerze, in dem anderen eine weiße. „Was meinst du?“

„Ich...“ Mirjam blickte zwischen den Leuchtern hin und her. Das rosa hatte etwas Fleischiges, eigentlich war es der unterkühlten Farbe der Hortensien überhaupt nicht ähnlich. Das Weiß wiederum war so rein, dass es sie beinahe blendete. „Wird das denn überhaupt jemandem auffallen?“ sagte sie schließlich.

„Du hast Recht“ murmelte Hilda. Sie stellte die Leuchter auf das Tischtuch und zog beide Kerzen von den Dornen. „Ich werde noch einmal nachschauen. Ich glaube, wir haben irgendwo noch lindgrüne Kerzen.“ Sie huschte wieder über den Rasen, den Kopf geneigt, als suche sie etwas im Gras. Mirjam wusste, das bedeutete, dass Hilda angestrengt nachdachte.

Sie ging zur Terrasse und holte einen zweiten Sessel. Die Sonne brannte auf die Terrasse herab. Sie spürte einen Schweißtropfen, der sich von ihrem Nackenhaar löste und ihre Wirbelsäule hinabrann. Er verursachte ein Kitzeln, das ihr schier unerträglich schien. Fast stellte sie den Stuhl ab, um den Tropfen wegzuwischen. Aber dann war es schon vorbei. Hilda wartete am Tisch auf sie. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie an ihr vorbeigegangen war. Auf den Kerzenständern steckten nun zwei mittelgrüne Kerzen, deren Farbe Mirjam an das Gummizeug erinnerte, das sie als Kind von ihrem Taschengeld am Kiosk gekauft hatte. Hilda hatte eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen.

„Der wackelt ja total!“ Sie drückte mit der Hand auf das rechte Ende der Tischplatte und tatsächlich fing der Tisch an zu wackeln. Ein leichtes Schwanken, das aber nicht zu übersehen war. Die Hortensien zitterten in ihrer Schale.

„Wir könnten etwas unterlegen“ schlug Mirjam vor, obwohl sie wusste, dass das nicht die richtige Antwort war.

„Auf keinen Fall!“ Hildas Stimme klang laut und streng. „Außerdem hat mich gerade eine Mücke gestochen. Hier!“ Sie hielt Mirjam die entblößte Innenseite des Unterarms entgegen. Die Sehnen spannten sich unter der Haut. Sonst sah Mirjam nichts.

„Wir tragen den Tisch zurück zur Terrasse, stellen ihn mittig und ich hole den Sonnenschirm aus der Garage.“ Hildas Hände unterstrichen jeden der beschriebenen Schritte und griffen dann die Tischkante.

Mirjam hob ihr Tischende hoch. Die Kerzenständer begannen zu zittern. „Vorsicht“ zischte Hilda. „Das sind Erbstücke“. Mirjam schwieg. Natürlich wusste sie, dass die Leuchter Erbstücke waren. Und sie wusste, dass Hilda das wusste.

Sie trugen den Tisch zurück in Richtung Terrasse. Mirjam setzte ihre Füße voreinander, so wie sie es früher beim Turnen auf dem Schwebebalken getan hatte, den einen exakt vor den anderen, mit den Zehen leicht nach außen zeigend. Es gelang ihnen, den Tisch auf der Terrasse abzustellen, ohne dass die Leuchter oder die Blumenschale Schaden nahmen. Nur ein paar dunkle Flecken auf dem Tischtuch zeigten, dass ein wenig Wasser aus der Schale geschwappt sein musste.

Hilda warf einen Blick auf ihre Uhr. Das Metallarmband blitzte im Licht auf. „Du holst die Stühle zurück“ sagte sie. „Ich hole den Sonnenschirm.“ Mirjam nickte. Hilda war schon in der aufgeschobenen Terrassentür verschwunden, die weißen Vorhänge wogten träge in der Zugluft.

Sie dachte an das Gewicht der Stühle, an den Schweißtropfen auf ihrer Wirbelsäule und setzte sich auf die Steinstufen. Sie hatte dieses Fest nicht gewollt. Aber es sei doch wichtig den eigenen Geburtstag zu feiern, hatte Hilda gesagt, „Allein aus Selbstwertschätzung“. Sie hatte Geburtstage noch nie besonders gemocht. An ihrem Ende blieb immer ein schales Gefühl zurück, so wie ein Glas Sekt, das man ein bisschen zu lange hat stehen lassen. Und sie mochte Sekt noch nicht einmal, auch Champagner nicht. Auch wenn sie das verschwieg. Champagner mochte schließlich jeder und in Hildas Kühlschrank lagen sechs Flaschen bereit. Selbstwertschätzung. War das überhaupt ein echtes Wort?

„Er ist nicht da!“ Hildas Stimme schrillte aus dem Haus. Sie drehte sich um. Ihre Freundin stand im Türrahmen, mit der einen Hand hielt sie sich daran fest, als könne sie jeden Moment umfallen. Sie bemerkte gar nicht, dass die Stühle noch immer hinten auf dem Rasen standen.

„Wer?“ fragte Mirjam. Sie spürte die Hitze der Sonne zwischen ihren Haarwurzeln als ein helles Brennen.

„Na, der Sonnenschirm!“ herrsche Hilda sie an.

„Oh“ sie versuchte ein bestürztes Gesicht zu machen. „Hast du überall geschaut?“

„Natürlich habe ich überall geschaut! Glaubst du jetzt, ich bin total verblödet?“ Hilda schlug mit der flachen Hand auf den Türrahmen. Für einen Moment war Stille.

„Ich fahr einfach zum Baumarkt!“ Die Anspannung in Hildas Gesicht löste sich in einem Lächeln auf. Mirjam mochte es, wenn Hilda lächelte. Mit ihren großen weißen Zähnen und dem breiten Mund hatte es etwas Glamouröses. „Der ist nur zehn Minuten von hier! Ich bin gleich wieder zurück.“ Sie huschte über die Terrasse, beugte sich zu Mirjam und drückte sie stürmisch an sich. „Du wirst sehen! Es wird alles gut!“ Mirjam roch den Maiglöckchenduft in ihrem Parfum. Hildas Haare kitzelten an ihrer Wange. Sie waren trocken und steif. „Du kannst dir ja schon mal einen Schampus aufmachen!“ Hilda verschwand hinter dem weißen Vorhang. „Bis gleich!“ rief sie aus dem Haus. Ihre Stimme hallte zu ihr und klang dabei fern und dünn. „Ja“ sagte Mirjam, als sie den Motor aus der Ausfahrt brummen hörte. Sie dachte an die Kröte. Vielleicht hätte sie doch versuchen sollen, die Würmer herauszuziehen. Vielleicht war es vorschnell gewesen, ihr einen Ziegel auf den Kopf fallen zu lassen. Aber die Würmer. Sie hatten so tief gesessen. Sie hatte fast spüren können, wie sie sich durch das zarte Fleisch fraßen, bis hinein ins Gehirn. Und die Augen. Die tiefe Traurigkeit darin. Sie hätte sie einfach nicht länger ertragen können.

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