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Warum lesen wir? Um Zerstreuung zu suchen oder Unterhaltung, als Ansporn oder auch schlicht aus Zwang. Bücher können uns quälen und sie können das Kostbarste überhaupt sein. Unsere Zuflucht, unsere letzten Verbündeten, wenn die Nacht am schwärzesten ist. Doch damit dies geschehen kann, muss uns ein Buch begegnen, das unsere Sorgen und Ängste kennt und vor nichts die Augen verschließt. Es muss uns an die Hand nehmen und sagen: Diesen Weg gehe ich mit dir.

 

„Wenn es ein Buch gibt, das du lesen möchtest, aber es hat noch niemand geschrieben, dann musst du es selbst schreiben“[1]
 

sagte Toni Morrison in einem Interview. Mit etwa zehn oder elf Jahren habe ich selbst aufgehört Jugendbücher zu lesen. Denn ich fand in ihnen nicht, was ich brauchte. Eine Stimme, die von tiefer Einsamkeit erzählte und trotzdem Hoffnung gab. Eine Stimme, die mich so ernst nahm, wie ich mich fühlte. Eine Stimme, in der meine Sorgen über die Welt um mich herum ein Echo fanden. Für erwachsene Bücher war ich eigentlich noch nicht bereit, aber dazu, selbst welche zu schreiben noch weniger.

Also irrte ich auf der Suche nach Büchern durch das Haus meiner Kindheit. Es war ein riesiges, verwinkeltes Fachwerkhaus in einem kleinen Dorf, das wir uns mit einer anderen Familie teilten, in der auch viel gelesen wurde. Regale waren unter Treppen eingebaut und über Kojenbetten, die Bücher stapelten sich in Fensterbänken und auf alten Kommoden. Ich musste nur zugreifen.

Was ich las, war so vielfältig wie die anderen Bewohner des Hauses. Unzählige Bücher von Stephen King, über Umberto Ecos DER NAME DER ROSE und Ken Follets DIE SÄULEN DER ERDE, bis zu WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO von Christiane F. Die Romane von Marion Zimmer Bradley waren darunter, die Bibel (ich musste mich entscheiden, ob ich konfirmiert werden möchte und die Bibel schien mir eine unerlässliche Entscheidungsgrundlage. Ich habe mich dagegen entschieden.) und auch eine Biographie über Kaiserin Sissi, von der ich nur die Beschreibung ihrer Ermordung noch erinnere.

All das überforderte mich einerseits heillos, es fehlte mir jeglicher Halt, jegliche Einordnung. Andererseits las ich so obsessiv, dass mein Vater, als ich Jules Vernes IN 80 TAGEN UM DIE WELT auf eine Wanderung mitnahm und während des Gehens las, damit drohte das Buch die nächste Schlucht hinunterzuschmeißen.

Ich hatte niemanden, mit dem ich über meine Lektüren hätte reden können und hätte ich mich doch jemandem anvertraut, so hätten mir vermutlich die Worte gefehlt. Jedenfalls Worte, mit denen man eine gepflegte, wohlgeordnete Unterhaltung bestreiten kann.

Also brach sich dieser innere Stau an Eindrücken Bahn in einem Schreibtaumel. Recht verwirrte, oft melodramatische Gedichte entstanden und Geschichtenfragmente, bei denen ich mit großen Plänen begann und mir nach kurzer Zeit die Energie ausging. Von außen betrachtet war das vermutlich ein recht klassischer, belächelnswerter frühpubertärer Ausbruch. Für mich war es die Geburt eines Traumes. Zu schreiben und gelesen zu werden schien mir der Gipfel der menschlichen Existenz. Geschichten zu erzählen, so wurde mir klar, war wie einen Finger durch Zeit und Raum zu stecken und einen anderen Menschen zu berühren, auch über die Grenzen von Jahrzehnten und Kilometern hinweg. Ich wollte Teil davon sein und dabei nicht nur auf der Seite der Lesenden verweilen.

Doch meine Schreibkunst reichte nie an das heran, was ich mir selbst erträumte. Irgendwann hasste ich jedes Wort so sehr, dass ich schließlich die Schreiberei für Unsinn erklärte und nach Passau zog um Jura zu studieren.

Die Katastrophe war unvermeidlich. Anstatt zu lernen, las ich tagelang von früh bis spät und heimlich schrieb ich wieder. Paul Auster begeisterte mich damals besonders, meine eigenen Werke hasste ich nach wie vor. Aber immerhin hatte ich doch genug Verstand nach Berlin zu ziehen und Komparatistik zu studieren. (Dass es dieses Studium gibt, hatte ich aus der Klappentextbiographie von Paul Auster entnommen.)

Auch wenn mir das Studium nach drei Semestern Jura wie eine einzige Dauerparty schien, bei der wirklich alles erlaubt war, so lange es irgendwie mit Büchern zu tun hatte, mein Schreiben hasste ich weiter, auch wenn ich es nicht lassen konnte. Es gab auch immer genug Gründe das Schreiben an den Rand meines Lebens zu drängen. Hausarbeiten, Zwischenprüfungen, Geld, das verdient werden musste, Bewerbungen, Praktika. Schließlich die Arbeit als Kreative in Agenturen und dann, klassisch, mit Mitte 30 Kinder.

Und doch ließ sich das Schreiben nicht zum Verstummen bringen. Immer wieder brach es aus mir heraus, manchmal musste ich nachts aufstehen und Ideen niederschreiben, die für sich vermutlich nicht viel weniger wirr waren als das, was ich mit 13 oder 14 zu Papier brachte. Figuren entstanden, die ich zwar klar vor mir sah, aber von denen ich nicht wusste, wohin ich sie schicken sollte. Szenen flossen mir aus der Feder, mehrere Seiten in wenigen Stunden – und dann war der Zauber wieder vorbei. Es gab auch immer ein Projekt, das mich brauchte, eine Windel, die gewechselt werden musste, eine Dienstreise, die ich vorschieben konnte.

Vielleicht wäre aus mir schließlich und endlich eine ältliche Dame geworden, die nach dem zweiten Weißwein gern erzählt, dass sie ja auch immer einen Roman schreiben wollte, und angefangen habe sie ja viele. Aber das Leben, wie es so spielt mit einem ...

Doch dann kam San Francisco und das Silicon Valley. Die Idee, dort für meine Arbeit als UX-Designerin Ideen und Visionen aufzusaugen, mich anstecken zu lassen von der Brillanz dieses Ortes.

 

Stattdessen brach zusammen, was ich für meine berufliche Identität gehalten hatte. Je mehr ich im Silicon Valley lernte, dem Brennpunkt dessen, was einen Großteil meiner Zeit beanspruchte, desto mehr wurde mir klar, wie wenig das mit mir zu tun hatte und wie wenig diese Welt zu geben hatte. Wie wenig Antworten es hier gab, obwohl sich jeder zweite als visionär bezeichnete. Wie absurd eine Welt ist, in der Startups Abermillionen Venture-Kapital einsammeln, die tatsächlich nichts weiter tun als einen weiteren Food-Delivery-Service auf den Markt zu bringen.

Im Herbst 2018 saß ich schließlich in einem Whirlpool in Monterey und erlebte etwas, das sich mit schneidender Klarheit als der Anfang vom Ende der Welt anfühlte. Ganz Kalifornien war überzogen vom giftigen Rauch der schwersten Waldbrände, die das Land je erlebt hatte. Nur diese kleine Halbinsel war davon verschont und eine abgelegene Bergregion. Es gab bunte Drinks, aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte sanfter Elektro-Pop, Die Kinder, deren Privatschulen wegen dem Smog geschlossen hatten, spielten kreischend mit aufblasbaren Einhörnern und Doughnuts im badewannenwarmen Wasser. Ich unterhielt mich mit lauter ratlosen Silicon-Valley-Eltern, Berkeley-Absolventen mit siebenstelligen Gehältern. Alles, was ihnen zu den drängenden Fragen unserer Zeit einfiel war Flucht. Die recht unverhohlen formulierte Hoffnung war, genug Geld zu verdienen, dass ihre Kinder später eine Zuflucht bezahlen konnten. Ich fragte mich, wie den Kindern, die dort so ausgelassen spielten, eine solche Zukunft wohl gefiele. Ob es tatsächlich alles war, was sie sich vom Leben erwarteten. Die konservierte Version der Welt ihrer Eltern zu bewohnen und darauf zu hoffen, dass sie lange genug durchhält.

Auch für kalifornische Verhältnisse war es ein ungewöhnlich warmer Herbst. Die Hitze im Whirlpool machte mich schwindelig. Also setzte ich mich auf den Rand und sagte: „It feels like the apocalypse is getting closer“ zur Mutter neben mir. Sie checkte gerade die Karte mit den Smogwerten. Alle zwei Stunden wurde sie aktualisiert und wir schauten nach, ob Monterey auf der Karte noch immer grün war, oder doch noch von den roten Schlieren eingehüllt werden würde. Keiner hatte eine Idee, was wir dann machen würden, wenn es soweit kommen würde. Mary, Neurowissenschaftlerin, blickte von ihrem Handy auf und antwortete: „Oh, this world is going down. That’s for sure.“ Dann wickelte sie ihren Sohn in ein Handtuch, wischte ihm zärtlich ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht und erzählte, wie anstrengend es sei zweimal die Woche zwischen Los Angeles und San Francisco zu pendeln. Mit dem Flugzeug. Aber ihr Verdienst sei einfach fantastisch. Monterey war auf der Karte noch immer grün.

Ich erinnere mich noch an das Mädchen, das neben uns schwimmen übte. Die blaue Taucherbrille saß schief auf ihrem Gesicht, sie schluckte bei jedem Zug einen Mundvoll Poolwasser und rief voller Stolz: „Look mommy, what I can do!“

Die Welt geht unter und die Kinder wollen trotzdem schwimmen. Ohne uns.

In diesen Wochen kam ein Zug ins Rollen, der sich nicht mehr aufhalten ließ. Ja, vielleicht geht unsere Welt unter. Aber unsere Kinder werden trotzdem da sein. Und sie werden Wege finden. DIE WELT VON MORGEN, bisher ein unklares Fragment, war mir bald so deutlich, dass ich es nur noch niederschreiben musste. Mir war klar, dass ich, auch wenn ich mich bei dem Gedanken fast übergab vor Angst, keine andere Wahl hatte. Ich musste schreiben.

Es gibt für mich keinen anderen Ausweg. Alle meine Wege enden immer dort. Beim Schreiben. Denn es gibt viele Bücher, die ich nie lesen konnte, weil sie bisher keiner geschrieben hat. Also werde ich es jetzt tun.

 

[1] „If there's a book that you want to read, but it hasn't been written yet, then you must write it.“ Ellen Brown, "Writing Is Third Career For Morrison," The Cincinnati Enquirer, 1981 September 27th . Übersetzung von mir

Die fehlenden Bücher

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