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  • sarahraich

Die Geschichten, die wir uns erzählen





Erzählst du mir was?

Späte Sonne fließt über den Perser-Teppich, der vermutlich keiner ist, sondern ein billiges Gewebe aus dem Möbelhaus, aber er hat so wunderbar verschlungene Muster, ich muss an eine Kurzgeschichte denken, die ich in einem Buch gelesen habe, ich lese viel und vieles, was eigentlich zu hoch für mich ist, zu gruselig und dunkel, zu unklar.

In der Geschichte wird ein Junge von einem Teppich verschlungen, oder vielleicht auch nicht, ich bin mir da nicht sicher, es war am Ende offen. Aber der Junge fiel auf den Teppich und als die Mutter ihn sucht, ist er weg. Ich bin acht und die Geschichte hängt in meinem Hirn fest, wie so viele Geschichten, die nicht schwarz und weiß sind, die ich nicht einordnen und weghängen kann. Hanni und Nanni kann ich nicht mehr lesen, auch wenn es eigentlich das Richtige für mich wäre, die Halbwelt der Geschichten, die im vagen bleiben, der Geschichten, die kein Happy End kennen, hat mich schon zu weit hineingezogen, es ist schon da meine Obsession, Antworten zu suchen, wo es keine gibt.

Ach, was soll ich dir denn erzählen.

Sie sitzt in dem Ohrensessel aus weißem Wollstoff, ihre winzige Gestalt versinkt fast darin. Es war der Sessel meines Opas. Nun, wo er tot ist, sitzt sie dort. Vorher nie. Es war sein Platz. Ich weiß das nur von Fotos und Bemerkungen meiner Mutter, ich kenne meinen Opa nicht. Er starb lange bevor ich geboren wurde. Für mich ist er ein glatzköpfiger alter Mann mit hochrotem Gesicht, dessen Aussehen mich fürchten lässt, ich will nichts von ihm geerbt haben, nicht seine wässrigen Augen, nicht seine fleischige Nase, ich kann nicht glauben, dass er mal jung gewesen sein soll. Für meine Oma ist er die große Liebe ihres Lebens.

Erzähl mir von früher. Wie das war, als du jung warst.

Ach, das ist schon so lang her, sie ziert sich noch ein bisschen und dann erzählt sie doch und ich tauche ein in die springenden Bilder ihrer Kindheit. Kurze Geschichten über ihre Schwester, die nie genug kriegen konnte von egal was und sich fast jeden Tag beinahe in die Hose gemacht hat, weil sie nicht aufhören wollte draußen zu spielen und dann nach Hause lief, brüllend: TÜR AUF ICH MUSS SO NÖTIG! Diese Geschichte lasse ich mir dutzende Male erzählen, ich mag es, dass es ein so unvernünftiges Mädchen einmal gab in unserer Familie. Ich bin so vernünftig, dass man mich schon mit fünf Jahren alleine Zug fahren lässt. Auch diese Schwester ist tot, schon lange, so wie der Bruder, so wie die Eltern und fast alle der Freundinnen, alle sind sie tot, es gibt sie nur noch in den Geschichten meiner Oma.

Und dann finde ich einen SPIEGEL, in dem Fotos von Auschwitz sind, nach der Befreiung, Fotos von Deutschen Soldaten während des dritten Reiches. Ich erkenne die Uniform, die die Männer tragen. Es gibt ein Familienfoto auf dem mein Opa solch eine trägt, das Bild einer kleinen, glücklichen Familie, die Mädchen mit großen Schleifen im Haar, mein Onkel, ein Baby, trägt eine gehäkelte Latzhose und hat einen nackten Oberkörper, die Familie kauert auf einem Rasen, als wollten sie sich ineinander verkriechen. Vorher hat mich die Uniform meines Opas kaum beschäftigt, jetzt verstehe ich, dass die Geschichten der Leichenberge und die Geschichten meiner Oma irgendwie verbunden sind, zumindest durch die Zeit. So wie ich mit Tchernobyl verbunden bin, weil es passierte, als ich schon da war. Ahne ich schon, dass es nicht nur eine zeitliche Verbindung ist?

Meine Fragen verändern sich. Die Geschichten verändern sich.

Sie werden kürzer und kürzer. Und das Gesicht meiner Oma verändert sich auch. Sie ist nicht mehr, wenn sie spricht. Sie ist eine redende Wand. Ja, sie kannte Juden. Sie hatte nichts gegen Juden. Irgendwann verschwanden sie. Und zurück kam keiner. Nein, sie wusste nichts. Ein Nazi war sie nicht. So lange man konnte, hat sie SPD gewählt. Ist nicht zu den Frauentreffen der Nazis gegangen, weil sie die nicht mochte. Aber man habe ihr gedroht, die Kinder wegzunehmen. Und da hat sie nichts mehr gesagt und ist doch hingegangen. Sie erzählt, ein pflichtschuldiger Apparat, der Antworten gibt, die die Gefühle verschweigen und vermutlich noch mehr, was ich spüre und deshalb immer weiter frage, aber die Sätze bleiben kurz und leer. Und Opa? Diese Frage lässt sie lange unbeantwortet. Ich weiß, mein Opa war nach dem Krieg „krank“. Das ist die Erzählung der Familie. Er konnte lange nicht arbeiten, Oma verdiente das Geld. Eine Geschichte, die mir normal erscheint, denn in meiner Familie arbeiten fast alle Frauen für Geld und alle „haben die Hosen an“, wie es die Onkel nach ein paar Aquavit zwinkernd sagen. Es ist eine Familie mit weichen Männern, die nahbar sind und lustig und Frauen, die den Laden schmeißen, in dieser Welt macht es Sinn, was ich über meine Oma und meinen Opa weiß.

Dein Opa war im Gefängnis, sagt meine Oma irgendwann. Sie haben gesagt, er wollte Fahnenflucht begehen. Dass er nicht in den Krieg wollte. Aber so einfach war das nicht. Dein Opa war kein Feigling. So wie meine Oma es sagt, frage ich mich, jetzt vielleicht zehn oder elf, ob er es vielleicht doch war. Ein Feigling. Ich merke, sie will diese Geschichte eigentlich nicht erzählen. Sie hat diese Geschichte eigentlich schon beerdigt. Und nun zwinge ich sie, sie auszugraben. Ich sehe an ihren Augen, dass sie das nicht will. Und sie tut es trotzdem. Warum? Warum erzählen wir uns überhaupt Geschichten? Welche erzählen wir uns? Und welche verschweigen wir?

Keines der fünf Kinder meiner Oma, keines der anderen elf Enkelkinder (ich bin die Jüngste, die zwölfte) kennt die Geschichte von der Gefangenschaft. Erst nach dem Tod meiner Oma entdecken ihre Kinder die Entlassungsurkunde aus der Haft.

Sie wissen auch nichts von dem, was der Bruder getan hat. Der Bruder meiner Oma, ein glühender Nazi der ersten Stunde und Mitglied der Waffen-SS, hat seinen Einfluss genutzt und meinen Opa aus der Haft herausverhandelt, das Todesurteil abgewendet. Wie das genau passierte? Danach habe ich nicht gefragt. Ich habe als Erwachsene versucht, die Gerichtsakten zu bekommen. Vermutlich verbrannt, sagte man mir. Wie so vieles.

Warum hat meine Oma mir diese Geschichte erzählt? Weil es mit mir zu tun hat? Meine Mutter wurde als einzige nach dem Krieg geboren, als einzige nach der Haftentlassung.

Auch die Geschichte vom Volkssturm, den Omas Bruder mitorganisiert hat und den er nicht überlebt – wie viele der Kinder auch nicht, die er in den sicheren Tod geschickt hat – auch diese Geschichte erzählt sie nur mir, ich bin noch immer ein Kind. Es ist die Geschichte eines Verbrechers, eines Mörders. Und die Geschichte meines Opas? Eine Heldenerzählung ist es nicht. Eher die eines Versagers. Meine Oma spricht nie davon, dass mein Opa sich gegen die Naziherrschaft stellen wollte. Er kam einfach nur zu spät in die Kaserne. Ob absichtlich oder ausversehen, das beantwortet sie nicht. Ich kenne ihn nicht, fühle mich aber während ihrer Erzählung hinein in eine Panik, nicht sterben zu wollen und dann einfach nicht mehr hinzugehen. Zum Krieg.

Meine Oma gibt mir keinen Helden, aber sie füllt mir eine Lücke in der Familiengeschichte, eine, die meine Existenz erst möglich gemacht hat. Ohne einen glühenden Nazi-Großonkel gäbe es meine Mutter nicht, gäbe es mich nicht. Dieser steht am Beginn unserer Existenz. Einer, der viele sterben ließ.

Oder erzählt meine Oma, weil ich frage? Mich von der Wand, die ihr Gesicht wird, nicht abschrecken lasse, sie zwinge, die Geschichte auszugraben, die hinter „Der Opa war im Krieg und danach ging es ihm nicht so gut“ steht?

Haben wir selbst in der Hand, welche Geschichten wir erzählt bekommen?

Und warum erzähle ich diese Geschichte? Jetzt und hier? Warum muss das so persönlich.

 

Laut einer repräsentativen Studie von 2016 glauben 16 Prozent der Deutschen, ihre Vorfahren seien im aktiven Widerstand gewesen. Tatsächlich waren es wohl 1,6 Promille. https://www.welt.de/geschichte/article173890821/Geschichtsbewusstsein-Wie-sich-heutige-Deutsche-die-NS-Zeit-schoenluegen.html

 

Geschichten haben einen Anfang, eine Mitte, ein Ende, doch bei dieser Geschichte. Wo hat das angefangen. Gibt es ein Ende. Ich sehe es nicht. Also gehe ich nah ran. So nah ich kann, häute die Geschichte meiner Familie, meine Verbindung.

 

Die erste – und lange einzige – Kriegsgeschichte meines anderen Opas ging so: Irgendwann war klar, der Krieg ist verloren – aber sie sollten noch kämpfen. Aber mein Opa hat dann seinen Kameraden gesagt, sie sollten nicht für Nichts sterben (vorher war es also richtig, zu sterben, als es ums Deutsche Reich ging, denke ich heute. Als Kind bin ich noch nicht so weit, verpasse den Moment der Frage). Sie würden jetzt nach Hause gehen. Bald darauf sind sie von den US-Amerikanern in Kriegsgefangenschaft genommen worden. Die Geschichte zum Krieg beginnt, als er zu Ende ist.

Später höre ich diese Geschichte, in minimalen Abwandlungen, immer wieder, wenn Deutsche über ihre Soldatengroßväter sprechen. Wenn sie überhaupt etwas wissen, was sie erzählen können, ist dies die Geschichte, die sie erzählen, die sie erzählt bekommen haben. Die Stunde Null der Familiengeschichte. Und dann hat Opa nicht mehr mitgemacht, kam Opa nach Hause, hat geheiratet / ist zurück zu seiner Familie, das Leben rollt weiter, über sanfte Hügel, dem Sonnenuntergang entgegen.

Den Großvater, den ich kenne, liebe ich sehr. Er macht viel Unfug mit mir, ist unendlich geduldig, beantwortet mir meine Fragen zum Gärtnern und Hausbau (er ist Maurer), bringt mir Skifahren bei und hat Verständnis für meine Langeweile bei der „Hatscherei“ über lange Forstwege – ich gehe gern in die Berge, aber alles unter der Baumgrenze ödet mich an, ich will nur hoch, in die Felsen, wo es wild ist. Er zählt mit mir die Kehren auf dem Weg dorthin, erklärt mir die Pflanzen am Wegesrand, damit ich die Wege vor dem hochalpinen Bereich nicht verweigere.

Dieser Opa ist ein Held meiner Kindheit.

Doch ich werde älter. Ich bemerke Dinge. Ich merke, dass er meinen Namen nicht mag. „Sarah, da hamma a Sarah. Genoveva, das wär a rechter Name gwesn.“ Erst viel später verstehe ich die Verbindung. Mein Name – Sarah Raich – klingt jüdisch. Es sind jüdische Frauen mit diesem Namen von den Nazis ermordet worden. Eine Assoziation, die meine Eltern, in den 68ern sozialisierte linke Studierende, bewusst auslösen wollten. Um meine Großeltern zu schockieren. Ein Name als familiäres Schlachtfeld.

Mein Opa sagt auch andere Dinge. Zum Beispiel, man solle diesen oder jenen doch besser vergasen. Er sagt das immer ganz freundlich. Mit einem verschmitzten Grinsen. Aber meinen Vater, das merke ich, verstört es jedes Mal. Er ringt um Worte. Stammelt. Schimpft. Mein Opa lächelt. Und früh lerne ich, als Kind linker 68er-Eltern, was das ist. Dieses vergasen. Es erschüttert mich, als ich zum ersten Mal anfange zu verstehen, was passiert ist, als Menschen vergast wurden. (Wirklich verstehen werde ich es nie) Vielleicht bin ich acht oder neun. Dass auch mein Großvater mit diesem Vergasen in Verbindung steht, wird es noch ein bisschen dauern.

Ich höre die Geschichte der Opfer. Einer ganzen Ethnie, den Jüd*innen (das es noch andere Gruppen gibt wie Sinti*zze und Rom*nja, queere Menschen weiß ich noch nicht, nur von Politischen Insassen weiß ich auch. Und dass man sie besser behandelte als Jüd*innen). Die, oft nach einem Martyrium aus tage- gar wochenlangen Bahnfahrten in Viehwaggons, auf ihre Arbeitstauglichkeit untersucht wurden. Und jene, die man nicht wollte, die wurden gezwungen, sich auszuziehen, sie wurden in Duschräume geschickt, wo man die Türen verschloss und tödliches Gas durch die Duschköpfe leitete. So wurden die Menschen vergiftet. Ein qualvoller Tod.

Ich bin also ein Kind, das weiß, was Schreckliches passiert ist. In diesem Land, in dem ich geboren bin. Meine Eltern sind aufgeklärt, diese Geschichten erzählt man mir.

Natürlich ist mir klar, dass es die gab, die die Gashähne aufgedreht haben. Wo es Opfer gibt, da gibt es Täter. Dass es die gab, die an den Bahnhöfen die Waffen auf die Häftlinge, die Totgeweihten, die Opfer, richteten, damit sie auch wirklich dort ankamen. In den KZs. In den Barracken. In den Gaskammern. Hier und da sehe ich Fotos. Immer wieder erscheinen in Zeitschriften Artikel dazu.

Aber im Gegensatz zu den Opfern sind die Täter fern und völlig fremd. Kalte Gestalten mit harten Gesichtern. Menschmaschinen ohne Geschichte. Ohne Zukunft.

Mit meinen Großeltern haben diese Menschen nichts gemein. Zu mir besteht keine Verbindung.

Der einzige, der diese Verbindung für mich knüpft, ist mein Großvater. Durch Begriffe der Nazis. Aber neben seine Bemerkungen tritt keine Erzählung. Keine Verbindung. Kein vollständiges Bild. Ich habe nur Hinweise. Und die unausgesprochene, aber klare Botschaft. Über Nazis reden wir nicht mit den Großeltern. Darüber reden wir nur mit befreundeten Leuten, Menschen, die denken wie meine Eltern. Über diese schlimme Zeit. Damals. Darüber lesen wir in Zeitungen. Mit der Familie reden wir darüber nicht. Wir lassen es im Vagen. Wir bleiben bei einzelnen Worten und Sätzen, die im Gewebe unserer Gespräche wie Glassplitter hervorragen. Keiner sammelt sie ein. Keiner fügt sie zusammen.

Es gibt die Täter. Die Nazis. Die Monster.

Es gibt die Familie.

Dazwischen ist kein Durchlass.

Eines Tages durchbreche ich diese Mauer. Auch das ist nicht besonders würdevoll, oder aufrecht. Ich kotze es eher hervor.

Die Sonne scheint, aber es ist noch kalt. Frühjahr in den Tiroler Alpen. Der Tisch im Esszimmer meiner Großeltern umgestellt und ausgezogen. Es gibt auch nicht die angeschlagenen Teller. Es ist das Geschirr mit Goldrand, das nun auf dem Tisch steht. So viele sind wir selten. Dieser Geruch nach Essen in der Luft. Es ist ein bisschen zu warm, vom Kochen und von zu viel Mensch im kleinen Zimmer. Ich erinnere mich an das Gefühl, eingeklemmt zu sein. Ich bin 14, meine Cousine, erst neun, aber sehr vorlaut, sagt etwas, was ich verletzend finde. Was es war, weiß ich nicht mehr, es ist fortgewischt von der Welle, die danach folgt. So viel ist gewiss, auch mein Großvater macht sich über mich lustig, ich fühle mich verraten. Und dann sage ich es: Du scheiß Nazi.

Aufruhr.

Ich werde aus dem Haus geworfen.

Mein Vater, mein Onkel, meine Tante versuchen zu beschwichtigen. Meine Oma geht darüber hinweg. Zerrt mich hinaus.

Mein Opa schweigt.

Später werde ich mich entschuldigen müssen. Für den Familienfrieden. Denn meine Oma bleibt hart, auch nach zwei Jahren, meinen Vater zerreißt es fast, mein Opa schweigt. Ich tue es widerwillig. Natürlich ist für mich nichts mehr wie zuvor. Aber schief war es schon vorher.

Denn die Geschichten passen alle nicht zusammen. Nichts passt. Also wird einfach nicht darüber gesprochen. Und bleibt einfach so. Obwohl mein Großvater immer wieder Sachen sagt, die klarmachen: Er ist ein Rassist, ein Antisemit. Und er ist stolz darauf.

Rassisten und Antisemiten sind schlimm. Das lerne ich von meinen Eltern. Das lerne ich in der Schule. Das lese ich in Büchern, vor allem die Beltz-Bücher mit dem orangen Logo. Ich lese und lese und lese. Rassisten, Nazis, Antisemiten, Neonazis. Alle schlimm. Mein Opa. Der ist nicht schlimm. Aber ein Nazi. Nur spricht es keiner aus. Nie. Und ich kriege es nicht zusammen in meinem Kopf. Und bin damit allein. Alle anderen haben gute Opas, die nicht gleichzeitig Nazis sind.

Es wäre leichter, wenn mein Großvater ein schlechter Opa gewesen wäre.

Ich werde nicht mit ihm brechen. Das gehört auch zu dieser Geschichte. So aufrecht bin ich nicht. So stark. Das ist Teil der Wahrheit.

Ich werde ihn immer weiter besuchen. Weihnachten mit ihm Feiern. Werde ihm die Hand auf den Rücken legen, als er beginnt, sich mit seinem Teddybären zu unterhalten.  Ich werde ihn im Altenheim besuchen. Und an seinem Totenbett. Und wir werden nie wieder ein wirkliches Gespräch miteinander führen seit diesem Essen in dem zu kleinen Zimmer mit zu vielen Menschen.

Ich lerne im Unterricht immer mehr über Nazis. In Deutsch und Geschichte. Und niemand fragt nach unseren Großeltern. Das hat alles nichts mit uns zu tun. Aber schlimm. Ja, schlimm war es schon. Das mit den Nazis. Das mit den vielen, vielen Opfern. Die so viele sind, dass man immer wieder vergisst, dass die Millionen keine Zahlen, sondern Menschen sind.

Wir haben uns Jahrzehnte lang Geschichten erzählt. Über heroische Widerständler. Über beklagenswerte Opfer. Über Mörder. Menschmaschinen. Nazimonster.

 

Die Geschichten von Nazi-Deutschland sind Geschichten aus der Ferne. In einem Weit-weit-weg-Land, vor langer, langer Zeit.

 

Wir haben uns nie die Geschichten unserer Großväter und Großmütter erzählt. Und wenn, dann haben wir meistens gelogen. Wir sind vielleicht nicht immer Fußballweltmeister. Aber Aufarbeitungsweltmeister, das sind wir, einer, der das größtmögliche Maß an Abstraktion in die Geschichte bringt und sie dann auf Leinwände plakatiert.

 

Am 11. Oktober 1998 hält der Schriftsteller Martin Walser eine Rede in der Paulskirche. Darin kritisiert er, dass man den Deutschen ihre nationalsozialistische Vergangenheit immerzu vorhalte. Das helfe auf Dauer nicht, um die NS-Zeit in kritischer Erinnerung zu behalten, sondern es animiere die Menschen zum Wegschauen. Dadurch bestünde die Gefahr, dass Auschwitz zur simplen "Moralkeule" verkomme und seine tatsächliche Bedeutung verliere.

 

 

Und es begab sich zur jener Zeit, der Stunde Null im Jahre 1945, da wurde ein Volk geboren, entsprungen aus der unbefleckten Empfängnis. Nackt und unschuldig und rein erhob es sein Haupt und machte sich daran, sich die deutsche Erde Untertan zu machen und ein Wirtschaftswunder zu erschaffen. Und so lebten sie glücklich und demokratisch, in Wohlstand und gedachten der Opfer, die es mal in diesem Land gegeben hatte, es waren die perfekten Opfer, so wunderschöne, edle Opfer, denn sie waren meistens tot. Sie konnten beweint werden, ohne dass sie nach den Dingen fragten, die sie einmal besessen hatten, ohne dass sie ihren Zorn in die Gesichter derer schrien, die nun das Land der Täter bewohnten und die doch nichts damit zu tun hatten. Es waren Opfer, die den ihnen zugestandenen Raum nicht verließen. Die sich einschnüren ließen zwischen Buchdeckel.

Die wenigen, die überlebt hatten, zogen entweder weg, oder bekamen umzirkelte Plätze zugewiesen und manchmal durften sie reden. Über die Monster, die hier einmal gelebt hatten, früher, damals, in der lang-lang-her Zeit, vor der Stunde Null. Und manchmal konnte man ja weghören. Ist denn jedes Wort so wichtig, man kann sich ja nicht alles merken, den Opfern nicht immerimmerimmer zuhören und es gab ja die Stunde Null. Den Neubeginn. Alles andere. Ja, alles andere war ja davor. In der Weit-weit-weg-Zeit.

 

Die Stunde Null meines österreichischen Großvaters war eine Alm. Da begann die Geschichte, die er mir irgendwann als zweite Kriegsgeschichte erzählt hat. Sein Vater hat ihn bei seiner Rückkehr auf die Alm geschickt. „Um alles zu vergessen.“ Dann hat er, wie in seiner Kindheit als Bergbauernsohn, den Sommer über Kühe gehütet. In den Bergen über Imst. Im Herbst bekam er ein Kilo Butter als Lohn und das Vergessen noch dazu. Von der Butter hat er sich Bergschuhe gekauft. Von dem Vergessen ein funktionierendes Leben. Arbeit gegen Vergessen, das ist die Formel, die ich berechne. Auf den Baustellen der neuen vergangenheitsbefreiten Welt. Fünf Tage arbeiten offiziell. Zwei Tage schwarz. Sieben Tage die Woche. Arbeiten. Später an den Wochenenden sein eigenes Haus bauen. Dann noch eins. Bauen. Immer weiter. Bauen. Wohlstand. Söhne und Enkelkinder ohne Hunger. Mit eigenen Zimmern und Fahrrädern und Urlauben, alle studieren. Es geht ihnen gut, allen geht es gut, alle haben Essen, Häuser, Bildung, Geld, Wahlurnen. Geschichten von Opferzahlen, anonymen Leichenbergen, fremden Tätermonstern in einem Lang vor unserer Zeit. Wider das Vergessen. Wehret den Anfängen.

 

Tausende Überlebende des Porrajmos, dem Genozid an den Roma und Sinti während des dritten Reichs, haben bis heute keinerlei Entschädigung enthalten. Opferschutzorganisationen benennen als Hauptgrund die hochkomplizierten Regeln zur Beantragung der Unterstützung. ...

Jeder vierte Holocaustüberlebende in Israel lebte im Jahr 2015 unterhalb der Armutsgrenze. Der Israelische Staat hat mehr Geld für die Fürsorge der jüdischen Opfer ausgegeben als Deutschland.

 

 

Ein Bild, das mir bleibt, für das ich aber keine Geschichte habe, nur ein Schweigen:

Eine Schwärze, eine übergroße Schuld, vermengt mit eigenem Schmerz die ein unablässig schaufelnden, mauernden, von der Kindheitsrachitis eigentlich schon gekrümmten Großvater antreibt, eine Kraft, die sich aus allem speist, was weg soll, vergossen im Fundament die Knochen der Erinnerung, im Putz gärt das alte Blut, das sich eben doch nicht fortwaschen lässt. Er wird sein Leben lang bauen. Seine Häuser, die Häuser der Söhne, den Garten bestellen, Gemüse ziehen, Kohl und Tomaten, seine Häuser, immer wieder seine Häuser reparieren, renovieren, der Stolz der Familie, erhalten, tragen, heiligen, in alle Ewigkeit. Ein offen ausgesprochenes Gesetz: Diese Häuser darf niemand verkaufen, das Erbe will getragen werden, die Knochen und das Blut wird keiner los. Von einem Großvater zu Millionen Großvätern, zu einem Wirtschaftswunder, zu ganzen Nationen. Ein Naziland transformiert sich in der magischen Stunde Null von einer Vernichtungsmaschine zu einer Schaffeschaffehäuslebaue-Maschine, ganze Länder, die nichts zu erinnern haben, denn sie sind wieder wer. Nationen voller Blutbeton.

Und nun stehen wir hier. Im Jahr 79 Seit der Stunde Null.

Deutschland ein kränzeablegender Betroffenheitsleister. Für alles, was vor der Stunde Null war. Dieser Dunkelzeit eines fremden Volkes.

 

 

Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Das Trio. Dreizehn Jahre lang morden sie aus dem Untergrund heraus. Bomben. Rauben. In ganz Deutschland. Keiner stoppt sie. Kein Polizist. Kein Geheimdienst.

Ihre Mordserie ist in Deutschland beispiellos. Neun Männer sterben. Hingerichtet an ihren Arbeitsplätzen. Ein Blumenstand. Ein Imbiss. Oder eine Schneiderei. Erschossen am helllichten Tag. Weil sie Migranten sind. Das Trio ermordet auch eine Polizistin.

Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sind der selbsternannte "Nationalsozialistische Untergrund". "Taten statt Worte" heißt ihr Motto: Mord und Raub statt langer Reden. Sie kommen aus Jena im Bundesland Thüringen. Ihr Ziel: Mit ihren rassistischen Verbrechen wollen sie Einwanderer in Deutschland verängstigen und sie am Ende aus dem Land vertreiben.

 

 

Im Jahr 2005 verbrannte der aus Afrika stammende Asylbewerber Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau. Bis heute sind die genauen Hintergründe seines Todes unklar. Ein neues Gutachten kommt zu dem Schluss, dass der damals 36-Jährige mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zelle angezündet wurde.

Das neue Gutachten geht auf die Bemühungen der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" zurück und basiert auf der Einschätzung des britischen Brandsachverständigen Iain Peck ...

Im weiteren Verlauf der Nachstellung wurde ein Dummy aus Schweinestücken und Schweinehaut mit den Körpermaßen von Jalloh auf der feuerfesten Matratze angezündet. Doch bei mehreren Versuchen gelang es nicht, dieselben Verbrennungsspuren zu hinterlassen, wie sie in Jallos Zelle aufgetreten waren. Erst als der Dummy mit 2,5 Litern Benzin übergossen und anschließend angezündet wurde, entstand ein Bild mit vergleichbaren Brandschäden. Auch der künstlich nachgestellte Körper habe sich in einem ähnlichen Zustand befunden wie die Leiche des Asylbewerbers.

Peck vertritt die Auffassung, dass die Abläufe in der Nacht des Geschehens 2005 und bei dem Versuch mit hoher Wahrscheinlichkeit übereinstimmen: Dass Jalloh also mit dem Benzin übergossen und dann angezündet wurde. Ohne Benzin wären aus Sicht des Forensikers ein solches Feuer und so starke Brandspuren nicht möglich gewesen.

Bereits in der Vergangenheit hatten andere Gutachten die Schilderung der Behörden in Zweifel gezogen. So kamen etwa im Jahr 2017 mehrere Sachverständige aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie zu dem Schluss, dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als durch eigenes Verschulden. Rund zwei Jahre später erhoben zwei Sonderermittler in ihrem Bericht schwere Vorwürfe gegen die Polizei und zuständigen Behörden. Ihr Fazit: Von der Festnahme bis hin zur Nacht des Todes Jallohs sei so gut wie jede polizeiliche Handlung fehlerhaft oder rechtswidrig gewesen.

... Die Generalstaatsanwaltschaft des Bundeslandes hatte ihre Ermittlungen in dem Fall 2018 eingestellt.

 

 

 

 

Am 9. Oktober 2019 versuchte der Rechtsextremist Stephan B. in Halle an der Saale schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen. 

Wäre der Täter mit seinem Attentat nicht gescheitert: Es wäre einer der schwersten

 Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte geworden. Der Rechtsextremist Stephan B. wollte am 9. Oktober 2019 – am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur – in einer Synagoge ein Massaker anrichten. Er versuchte, die verriegelte Eingangstür mit Waffengewalt zu überwinden, doch diese hielt zahlreichen Schüssen und selbstgebastelten Sprengsätzen stand. 

Nach dem Anschlag von Halle forderten viele, jüdisches Leben in Deutschland besser zu schützen. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle warf der Polizei vor, die Synagoge habe trotz einer entsprechenden Bitte keinen Polizeischutz erhalten. 

 

 

 

Anmerkung: Die schützende Tür hat die jüdische Gemeinde Halle auf eigene Initiative und Kosten installiert.

 

 

 

 

Am Abend des 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias R. an mehreren Tatorten in Hanau innerhalb von sechs Minuten neun Frauen und Männer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Er handelte aus rassistischen Motiven. Sechs weitere Menschen wurden bei der auf den Zeitraum zwischen 21.55 Uhr und 22.01 Uhr datierten Tat verletzt – teils schwer ...

Die Ermittlerinnen und Ermittler kamen zu dem Schluss, dass Tobias R. ohne Mithelfer gehandelt habe und niemand in seine Pläne eingeweiht war.

Die "Initiative 19. Februar Hanau", die sich für eine lückenlose Aufklärung und Konsequenzen einsetzt, teilte kurz nach Einstellung des Verfahrens mit, dass sie die Rolle des Vaters weiterhin für "nicht ausermittelt" halte. In einem Prozess wegen des Verdachts der Beleidigung hatte die Richterin dem Mann ein "rassistisches Gedankengut" bescheinigt. Er wurde wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Bundesanwaltschaft betont allerdings, man habe eine mögliche Rolle des Rentners "umfassend beleuchtet". Angehörige verweisen auf aus ihrer Sicht noch andere offene Fragen, etwa zu den Waffenbesitzkarten des Täters ...

Zeuginnen und Zeugen erhoben in ihren Aussagen teils schwere Vorwürfe gegen die Behörden. Der Vater eines Getöteten verwies darauf, dass der Polizeinotruf überlastet gewesen sei. Sein Sohn hatte Tobias R. nach den ersten Schüssen mit seinem Fahrzeug verfolgt, sei jedoch mit seinen Notrufen nicht durchgekommen und verfolgte den Täter weiter, woraufhin er erschossen wurde.

Im Januar dieses Jahres erhob auch der Bruder eines Ermordeten, Cetin Gültekin, im Untersuchungsausschuss harte Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden, die überfordert und teils aggressiv reagiert hätten. Zudem hätten die Angehörigen erst nach vier Tagen den Aufenthaltsort der Leiche erfahren.

 

Die AfD hat zwei neuen Umfragen zufolge ihre Position als deutlich zweitstärkste bundespolitische Kraft gefestigt. In dem am Freitag veröffentlichten neuen ZDF-Politbarometer der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen legt die Partei um einen Prozentpunkt auf 21 Prozent zu, nach Senderangaben ein Höchstwert.

 

 

Jede zwölfte Person in Deutschland hat ein rechtsextremes Weltbild. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Studie für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, die alle zwei Jahre menschenfeindliche, rechtsextreme und demokratiegefährdende Haltungen in der Bevölkerung untersucht. Auffällig ist neben den eindeutig rechten Positionen aber auch der Anstieg im sogenannten Graubereich, also bei Menschen, die extrem rechten Aussagen nicht eindeutig zustimmen, sie aber auch nicht klar ablehnen. Bei der diesjährigen Befragung war das etwa jeder Fünfte.

 

 


 

Buchenwald

 

Es war einmal und ist noch immer

ein leeres Zimmer inmitten

aller Sätze und Worte

im Herzen von Allem

von Tumult und Radau

durchtrieben von Pflöcken

aus Eis und aus Stahl

gefesselt vom Gas, gefesselt vom Rauch

ist das was war noch immer.

 

Für alle Zeiten verweilt

die Stunde des letzten Moments.

Wer kann sie tragen,

wer hebt sie über sein Haupt.

So schweigt sie und schreibt

am dunklen See der Wortlosigkeit

die Streifen des Kleids

uns unter die Haut.

Die Finger schwarz wie faules Holz,

die Knochen weiß wie Schnee,

das Blut es ist schon lang geronnen.

Und selbst der Eichelhäher,

er fliegt stumm. Was soll er rufen.

Der Tod, er bleibt so wie die Schuld



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