Sarah Raich
Die Welt von Morgen
Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht so richtig, wo ich anfangen soll. Ich weiß ja auch gar nicht, wer Du bist, was Dich interessiert, was Du schon weißt. Was Du erlebt hast. Wer weiß, vielleicht hast Du Dir die ganze Zeit auf irgendeinem Südsee-Atoll die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, kühle Drinks geschlürft und im Fernsehen zugeschaut, wie hier alles zusammengebrochen ist. Vielleicht tust du das ja auch immer noch. Vielleicht gibt es ja noch immer Orte, wo es einfach nett ist. Ohne fiese Krankheiten, Dürre und Tod. Vielleicht liegst du da jetzt, hörst meine Geschichte und denkst dir: Oh Mann, die Arme. Was für ein trauriges Leben, buhuhuuu, schlürfst ein bisschen Ananas-Saft, bevor du ins klare Meer springst und ein paar Züge schwimmst. Vielleicht hört mich ja auch nie jemand.
Aber das bin ich gewöhnt. Ist ja keiner hier. Da kann ich ja auch gleich mit mir selbst reden. Oder mit Herrn Meyer da drüben. „Hallo, Herr Meyer, wie geht’s denn so? Wollen Sie nicht mal wieder ihr Auto putzen? Nein? Hmmm. Sie waren aber auch schon mal gesprächiger!“
Ich versuche sonst eigentlich, nicht so sehr zu ihm zu schauen. Mittlerweile geht’s, jetzt ist er ein Skelett. Aber eine Zeitlang sah es wirklich fies aus. Als die Haut an den Armen langsam schwarz wurde... Es war mir gar nicht klar, wie ekelig der Tod sein kann. Ich hab’ darüber nicht so viel nachgedacht. Ich meine, über den Tod hab ich schon viel nachgedacht. Sehr viel. Aber das Vermodern danach. Das war mir nicht so bewusst. Es tut mir auch leid, dass ihn keiner begraben hat. Aber Papa hat gesagt, das machen wir auf gar keinen Fall. Das Risiko ist viel zu groß. Da können wir uns anstecken. Oder überfallen werden.
Nun ist er da also noch immer, ein Haufen Knochen, der über dem Lenkrad seines geliebten Autos hängt. Sieht nicht so crispy aus, der Herr Meyer. Nicht, dass er je crispy aussah.
Früher hab ich übrigens nie ‚crispy’ gesagt. Jedenfalls nicht vor anderen. Höchstens so für mich. In mir drinnen. Wenn ich mir vorgestellt habe, wie die Dinge sonst sein könnten. Wie sich ein anderes Leben anfühlen würde, eines mit Freunden und Parties.
Zuhause will Papa solche Worte nicht. Das findet er ganz schlimm. ‚Als hätten wir nicht schon eine schöne, funktionierende Sprache, mit der man alles sagen kann, was zu sagen ist.’
Und in der Schule? Niemals. In der Schule kannst du ‚crispy’ sagen, wenn du ‚crispy’ bist. Sonst hältst du besser die Fresse. Und wenn du doch was sagen musst, dann sag bitte so wenig wie möglich, so unauffällig wie möglich. Wenn du ein Wort in den Mund nimmst, das die Coolen benutzen – dann bist du fällig. Justus, zwei Klassen über mir hat mal „killer“ benutzt. Zwei Tage später kam er heulend vom Klo. Auf seiner Stirn und seinen Wangen stand mit Edding „Ich bin killer scheiße“.
Ich frag mich, was mit dem ist. Mit dem Justus. Ob der noch lebt? Ich glaub’ nicht. So verstrahlt wie der war. Obwohl. Ich bin ja auch noch hier. Und wenn jetzt überhaupt irgendwer an mich denkt, dann bestimmt: Die olle Mariana? Die ist doch schon lange abgekratzt, so blöd wie die war.
Der Zusammenbruch ist jetzt etwa zwei Jahre her. Obwohl ich das nicht so richtig benennen kann, wann das war, der Zusammenbruch. War das, als die Schule aufgehört hat? Erstmal auf Zeit und dann einfach für immer? Oder war es, als es keine Nachrichten von der Regierung mehr gab? Oder als die Leichen auf der Straße liegen blieben, weil sie keiner mehr beerdigt hat? Mir hat nie jemand gesagt: So, Mariana, das war’s jetzt. Die Welt, die du kanntest, die ist jetzt wirklich erledigt.
Mir war es schon klar, dass das nichts mehr werden konnte. Ich hab’ nur auf den Knall gewartet. Aber geknallt hat es nie. Es ist einfach so alles zerbröselt. Wahrscheinlich ist das eine unserer vielen Schwächen. Von uns Menschen, meine ich, dass wir immer denken: Bevor es vorbei ist, bekommen wir noch eine letzte Warnung, damit wir wissen: Jetzt ist wirklich Schluss! Aber so ist die Welt nicht. Da muss man nur der Natur zuschauen. Riesen-Bambus zum Beispiel. Der kann 70 Zentimeter am Tag wachsen. Aber SEHEN kannst du es trotzdem nicht.
Ich glaube, als ich geboren wurde, war bei uns noch alles ganz fein. Also, in Europa, Deutschland. Vielleicht noch USA. Alle hatten Essen, 50 Fernsehkanäle, jeden Tag fünf heiße Duschen, wenn man wollte. Die Leute lagen an Schwimmbecken und tranken ständig irgendwelche tollen Getränke, solche mit Obst am Glas und Schirmchen, die nach irgendwas schmeckten oder aßen ein Eis.
Im Rest der Welt war’s da schon nicht so toll. Aber wenn ich meinen Geschichtslehrer richtig verstanden habe, dann war das eine ganze Weile so. Europa war okay für die meisten, Nordamerika im Großen und Ganzen auch. Der ganze Rest: Großer Mist für quasi alle. Und jetzt ist halt großer Mist überall. Soweit ich das beurteilen kann jedenfalls. Denn die Wahrheit ist: Ich weiß nichts über den Rest der Welt. Ich weiß eigentlich nur, dass ich hier in diesem Haus sitze und keinen dran kriege an dieses blöde Funkgerät. Und meine Eltern sind seit drei Wochen verschwunden. Meine Mutter seit 21 Tagen und fünf Stunden, mein Vater seit 20 Tagen und 18 Stunden. Seitdem habe ich keinen lebenden Menschen mehr gesehen. Es könnte also auch sein, dass genau niemand mehr da ist. Gar niemand. Dass ich der letzte Mensch bin auf diesem verdammten Planeten. Und ich sitze hier in diesem Haus, gieße das Gemüse im Keller, kontrolliere die Belüftung, die Wasserfilter, die Sicherheitsschleusen und hoffe, dass alles gut geht.
Mein Vater sagt immer: Funk kommt von Geduld. Weil man stundenlang da sitzen muss und hören muss und was sagen muss und wieder hören und wieder Frequenz verstellen. Immer so weiter. Das dauert halt.
Theoretisch kann ich auch mit Leuten in Australien sprechen. Wenn denn da jemand ist, wenn er dieselbe Frequenz hätte wie ich und er oder sie mir antworten würde. Bisher hat noch keiner geantwortet. Immer nur rauschen und zirpen. Manchmal glaube ich, dass ich da eine Stimme höre, ganz weit weg, zwischen dem Zirpen, im Zirpen drin, fremde Sprachen, die mir etwas zuflüstern. Papa hat immer gesagt, das ist Unsinn. Das Zirpen sind atmosphärische Störgeräusche. Und, hat er gesagt, selbst wenn es Stimmen sind, ist es egal. Denn du verstehst sie nicht, Mariana. Du kannst nicht mit ihnen sprechen, also ist es nutzlos.
Ehrlich gesagt, ich finde es nicht egal. Wenn ich wüsste, dass in dem Zirpen Stimmen sind, dann wüsste ich, da ist jemand. Irgendwo. Ob die nun Kishuaeli sprechen, oder Urdu – das wäre mir erstmal nicht so wichtig. So ist es aber nur die Stille, die mal kurz zuckt.
Internet war praktisch. Jedenfalls, als es noch richtig funktioniert hat. Als ich noch zur Schule gegangen bin, sind immer mehr Server-Farmen ausgefallen, die Stromspargesetze haben dem Internet auch geschadet, sagt Papa, aber sie haben nur beschleunigt, was kommen musste.
Mein Vater hat im Keller ein paar Server stehen. Da ist eine Menge drauf. Von dem, was mal das Internet war. Er hat immer gesagt, Mariana, das ist das Wichtigste. Das Wissen aufheben. Damit es weitergeht. Deshalb haben wir auch einen Keller voller Bücher. Und einen voller Filme, Fotos, Zeitungen.
Vielleicht denkst du jetzt: Komischer Typ, der Vater. Ich weiß nicht, kann sein. Meine Mutter sagt immer, total einen an der Klatsche, dein Vater. Und ein bisschen hat sie vielleicht auch Recht. Mein Papa hat sich nie für das interessiert, was die anderen gut fanden. Aber deshalb bin ich überhaupt noch hier.
Er hat es kommen sehen. Er hat dieses Haus so gebaut, dass wir hier alles überleben können. Dass wir wie eine Insel sind, im verseuchten Meer.
Bis es aber soweit war, war ich nur die bekloppte Mariana mit dem noch bekloppteren Vater. Und als es soweit war, ist auch keiner mehr gekommen und hat gesagt: Sorry, Mariana. Dein Vater hatte ja doch recht. Und, ach so: Tut uns leid, dass wir dich in die Kloschüssel gesteckt haben. Ach ja, wir hätten dich vielleicht auch mal zum Geburtstag einladen sollen. Und der Spitzname Mongo-Ana war natürlich auch nicht okay. Ne, hat leider keiner gesagt. War dann eben so. War dann eben vorbei. Recht haben hilft irgendwie auch nicht.
Und jetzt sitz ich hier und hangel mich von Fiepsen zu Fiepsen in diesem Monsterkasten. Bis nach Australien. Wow. Dabei wüsste ich eigentlich gern, ob hier in der Gegend noch jemand ist.
Papa hat gesagt, bei den meisten geht es schnell. Wenn das Wasser aus ist und sie rausgehen, sind sie erledigt. Das machen die Bakterien ganz schnell. Wir haben vor der Schleuse vier ABC-Anzüge hängen. Naja, mittlerweile nur noch zwei.
Ja, in den ersten Monaten, nachdem uns Papa eingeschlossen hat, liefen dann immer mal solche an unserem Haus vorbei. „Weg von den Fenstern, sofort!“ hat mein Vater dann immer gesagt. Und wir sind für zwei Stunden in den Keller, haben einen Film geschaut oder so. Ich hab mich immer gefragt, was das soll. Ich meine, wir haben Panzerglas-Fenster, wir haben Stahlplatten in den Türen. Wir haben sogar ein Maschinengewehr auf dem Dach. Für alle Fälle. Wir haben die besten Luftfilter, die es auf der Welt gibt. Wir haben also gar nichts zu befürchten.
Einmal bin ich dann geblieben und hab geschaut, wer da ist. Und dann hab ich gewusst, warum mein Vater immer wollte, dass wir uns verstecken.
Es war eine Frau. Schon ziemlich angeschlagen. Die Haare fielen aus. Und die Blasen hatten schon angefangen. Sie schleppte sich die Straße entlang. Hinter sich zog sie einen Bollerwagen. Fotoalben, eine Plane, ein paar Konserven hatte sie darauf. Sachen halt, die Menschen glauben zu brauchen. Und dann sah sie mich. Ich weiß noch, wie ihr Blick mich traf, wie er sich richtig an mir festfraß. Sie hatte blaue Augen und dunkle Haare. Wie sie Hoffnung schöpfte. Sie hob die Hand, als wolle sie nach mir greifen. Dann wedelte sie damit in der Luft und fing an zu rufen. Ich verzog mich schnell an die Zimmerwand, so dass sie mich nicht mehr sehen konnte. Aber es war zu spät. Sie ging nicht mehr weg. Sie begann an die Tür zu schlagen. Und zu betteln. Und zu weinen. Und zu flehen. Und zu fluchen. Beschimpft hat sie uns. Und dann hat sie wieder gebettelt und geweint. Und sie hat nicht aufgehört. Und immer wieder schlug sie an die Tür. Hat am Holz gekratzt, einen Stein aus dem Garten genommen und gegen die Fenster geschlagen. Sie sind aus bruchsicherem Glas. Ich meine wirklich bruchsicher, nicht nur ein bisschen. Sie hat es aber ziemlich lang versucht. Stundenlang hat sie nicht aufgehört. Sie wurde immer schwächer, hat geblutet. Es war schrecklich. Aber ich habe es nicht geschafft, wegzuschauen. Ich bin am Fenster sitzengeblieben. Ich dachte, wenn ich gehe, dann verrate ich sie noch einmal. Ich dachte, ich darf sie nicht alleine lassen. Niemand will alleine sterben.
Vater hat mich dann weggetragen, in den Keller, bevor es wirklich mit ihr zu Ende ging. Am nächsten Morgen habe ich ihm geholfen. Wir haben sie in ein Tuch gewickelt und in die Verbrennungsanlage geworfen. Ich wollte ihr noch ein Buch dazulegen. Emily Dickinson. Die hab ich sehr gern. Auch wenn ich eigentlich nie ganz weiß, was sie eigentlich meint. Aber das ist es vielleicht gerade, was mir so gefällt. Und es klingt so schön.
„The soul has moments of escape -
When bursting all the doors -
She dances like a Bomb, abroad,
And swings upon the Hours“
Daran musste ich denken, als die Frau dalag. In ihrem Tuch. Wahrscheinlich einfach nur, weil mir ihr Hämmern an der Tür nicht mehr aus dem Kopf ging. BÄMM BÄMM BÄMM. Ich kann das noch heute hören. BÄMM BÄMM BÄMM. Oder vielleicht, weil ich gehofft habe, dass im Tod ein kleiner Teil von ihr entkommen ist. Jedenfalls habe ich ihr das sehr gewünscht.
Mein Vater hat das Buch zurück in den Keller gestellt. „Das reicht, Mariana.“ Hat er gesagt. So richtig hab ich es nicht verstanden. Aber ich wollte ihn nicht fragen. Ich war ehrlich gesagt ganz froh, dass er nichts mehr gesagt hat. Eigentlich wollte ich sie wirklich gern beerdigen. Noch was für sie tun. Aber so etwas interessiert meinen Vater nicht. Das kenne ich schon. „Halte dich nicht mit Sentimentalitäten auf, Mariana“, das sagt er oft.
Wir haben sie verbrannt. Das bringt Energie. Und die kann man immer gebrauchen. Ich war einfach froh, dass er nicht gesagt hat: Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt. Denn er hatte natürlich recht. Und die Frau war tot. Deshalb habe ich auch nichts gesagt.
Wir haben sowieso immer weniger geredet. Ich weiß auch nicht. Man könnte ja denken, es gibt viel zu besprechen. Aber irgendwie ist es ja auch immer dasselbe. Man sieht sich jeden Tag, es passiert nichts mehr. Außer dem, was eben immer passiert, was passieren muss, damit es weitergeht. Irgendwann wusste ich ja auch, wie die Dinge funktionieren. Wir haben die Sachen erledigt ohne zu reden. Zu tun gibt es immer genug.
Er hat einen Plan erstellt, was zu tun ist und einen Zeitablauf für uns. Damit es uns leichter fällt, hat er gesagt.
Jetzt mach ich einfach weiter damit. Das klappt ganz gut.
Ich muss jetzt den Abendrundgang machen. Am wichtigsten ist das Lüftungssystem. Ist ja klar. Alles andere kann warten. Die Luft nicht.
Ich schlafe schlecht. Vielleicht, weil mein Körper nicht müde ist. Es ist schwer, müde zu werden, wenn man sich immer und immer und immer auf knapp 400 Quadratmetern bewegt. Aber mein Kopf ist müde. So müde. Vielleicht sind es aber auch die Träume. Oder die Träume kommen vom schlechten Schlafen? Ich weiß es nicht. Was mich nervt ist, dass die Träume gar nicht vorwärts kommen. Immer dieselben, immer im Kreis. So wirr. Ich träume oft, dass ich wieder in der Schule bin. Ich warte auf Papa. Er wird mich abholen, sagt die Lehrerin, er hat angerufen. Sie geht. Ich höre noch ihre Schuhe auf den Fliesen klacken. TACK TACK TACK... Ich sitze auf einer Bank und warte. Dann kommt der Wind. Leicht erst. Ein paar Blätter treiben vorbei. Er wird immer stärker und stärker. Fast stößt er mich von der Bank. Aber ich bleibe sitzen. Kralle mich ins Holz. Warum schiebt der Wind eigentlich nicht die Bank weg, frage ich mich im Traum. Ist doch total unlogisch. Jedenfalls bleiben wir, wo wir sind. Die Bank und ich. Und dann kommt mein Vater. Ich sehe ihn über den Schulhof kommen. Die Wand ist ganz aus Glas, deshalb sehe ich ihn ganz deutlich. Ich will aufstehen und ihm zurufen: Hier bin ich! Endlich bist du da! Doch da sehe ich auf einmal: Das ist gar nicht mein Vater. Er sieht ihm ähnlich. Aber er ist mir vollkommen fremd. Mein Herz beginnt wie wild zu schlagen. Ich denke, es reißt meine Rippen auseinander. Und dann, wenn ich ganz sicher bin, dass jetzt mein Brustkorb platzen wird, dann wache ich auf. Und kann nicht mehr einschlafen.
Danach gucke ich meistens nach den Pflanzen. Ist ein bisschen bekloppt, denn ich gucke eh schon ständig nach ihnen. Aber ich denke mir, öfter ist besser. Und meistens finde ich dann noch Dinge, die ich für sie tun kann.
Ich mag Pflanzen. Ich lese auch gern über sie. Ich glaube, Pflanzen sind total unterschätzt. Naja, wenn man es mal genau betrachtet, ist alles ohne Pflanzen verloren. Mit den Pflanzen fängt alles an. Die Energie der Sonne fängt sich in ihnen. Die Nahrungskette beginnt. Ist doch total irre! Wir können uns selbst ja noch so toll finden, wenn wir nichts zu fressen haben, dann ist es eben schnell vorbei. Und auch wer nur Fleisch isst, der braucht ja Tiere – und die müssen ja auch von irgendwas leben. Irgendwo muss es anfangen. Und es beginnt eben immer bei den Pflanzen.
Neben der Luft sind die Gewächshäuser im Haus das wichtigste. Genaugenommen hängen sie auch zusammen. Weiß ja jeder, dass Pflanzen verbrauchte Luft in Sauerstoff wandeln. Und das tun sie auch hier.
Mein Vater hat wirklich ein ziemlich gutes Haus gebaut. Also, für die Apokalypse gut. Früher war es wohl eher ein bisschen irre.
Es ist wie ein kleines Tier, das ganz für sich lebt. Das sich nach außen schützt. Zum Angeben in besseren Zeiten war es vielleicht nicht so toll. Meine Mutter findet es schrecklich hier. Da war es ja nur konsequent, dass sie abgehauen ist.
Mein Vater hat gesagt, er hat schon lange gewusst, dass irgendwann mal alles in die Binsen geht. Aber es war ihm irgendwie egal. Er hat sich einfach gesagt: Es läuft, so lange es läuft. Und dann kam meine Mutter. Und dann ich. Und dann war alles anders, hat er gesagt. Dann konnte er nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken, wann, wie und wo und wie genau die Welt untergeht. Und was ich dann wohl mache.
Ich habe viel geweint als Baby, sagen meine Eltern. Meiner Mutter ging es da nicht so gut, sie musste viel im Bett liegen und schlafen und hat selber geheult. Und so hat mein Vater mich durch die Wohnung getragen und darüber nachgedacht, was er damit angerichtet hat, dass er mich in die Welt gesetzt hat – und wie er das wieder gut machen kann. Da musste er schon lange nicht mehr arbeiten, deshalb hatte er viel Zeit, darüber nachzudenken.
Er hatte ein Programm geschrieben, dass in großen Datenmengen Regelmäßigkeiten erkennt. Solche, die Menschen nicht erkennen können. Und das, hat er mir erklärt, war dann wie Gelddrucken.
Er hat ein und dasselbe Programm, also jedenfalls den Kern, immer neu verpackt, ein bisschen was dazu programmiert und verkauft. Supermärkte, Atomkraftwerke, die Polizei. Alle haben seine Software benutzt. Jedes Mal hat er eine neue Firma gegründet. Und niemand wusste, dass es immer er war. Und dann hat er meine Mutter kennengelernt.
Das muss sehr schön gewesen sein. Damals. Da war die Welt in Europa noch so richtig heile. In einer Stadt, die Saint Tropez hieß, war das. Im Sommer haben sich dort damals die Menschen getroffen, die reich waren, oder schön, oder beides und die jeder kannte. Mein Vater hat mir erzählt, dass er in dem Sommer mal ausprobieren wollte, wie das ist, als reicher Mensch zu leben. Er hatte zwar schon eine Weile einiges Geld. Aber es hatte ihn nicht so interessiert. Und dann hat er aufgehört zu arbeiten. Und dann war ihm langweilig. Und dann hat er sich ein Boot in Saint Tropez gemietet. Ein riesiges Boot. Das haben die reichen Leute damals so gemacht. Große Boote mieten. Mit Menschen, die alles für dich machen. Das Essen, das Bootfahren, das Putzen. Das muss total irre gewesen sein!
Ich meine, damals ging es hier ja eigentlich jedem gut. Alle hatten ständig immer Essen, warmes Wasser für Duschen und Baden, immer! Wer krank war, kam sofort zum Arzt und kriegte irgendwas. Und das half. Jedenfalls fast immer.
Die Leute fuhren ständig in der Gegend rum, um andere zu treffen, um Urlaub zu machen, ständig kauften sie neue Klamotten... Ich guck mir ja manchmal Filme und so von damals an, oder Fotos, oder im Fernsehen. Es muss total abgefahren gewesen sein. Und dann das noch in, ich weiß nicht, noch mehr! Noch krasser! Das beste Essen, die tollsten Klamotten, nichts mehr selber machen, gar nichts, nur noch machen, wozu man Bock hat – und wenn es 50 Duschen am Tag sind. Oder rumfliegen, auf der ganzen Welt. Und überall ist es schön. Alles riecht toll und sieht toll aus um dich herum. es gab damals ganze Internetseiten, Zeitungen und Fernsehsendungen über die reichsten und berühmtesten Menschen, Millionen haben sich das angeschaut und wollten auch gern so sein.
Naja, und mein Vater wollte sich das dann auch mal anschauen. Oder besser, es auch mal ausprobieren. Er hatte ja Geld. Und dann Zeit.
War total langweilig, hat er gesagt. Er saß auf seinem Boot, hat gegessen, geschlafen, ist schwimmen gegangen und hat sich gelangweilt. Weil es irgendwie nichts zu tun gibt. Es machen ja alles andere. Auch das kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Dass man nur Tolles hat – und dann ist es nicht toll? Ich wär’ so gern dabei gewesen. Nur mal für kurz. Ich hätte mich auch bestimmt nicht gelangweilt. Die Sonne, das Meer, Schwimmen, Schokolade und Erdbeeren mit Sahne, ein Steak ... so Sachen. Ich weiß gar nicht mehr wie das schmeckt. Sahne, Steak... Mein Vater meint, das war alles langweilig nach ein paar Tagen.
Hier jahrelang rumsitzen ist allerdings auch nicht besonders prickelnd. Aber egal.
Er hat dann den Kapitän von dem Schiff gefragt, was die anderen so machen, die so ein Schiff mieten. „Leute einladen, Parties feiern“, hat der gesagt, nachdem er sich wohl ziemlich gewundert hat. „Ich kenn keinen, den ich einladen kann“, hat mein Vater gesagt. Aber die Leute auf dem Boot wussten auch da Hilfe. Am nächsten Abend waren 50 Leute auf dem Boot. Und da war dann meine Mutter dabei. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hat, sagt mein Vater. Sie war gerade in irgendeinem Modell-Wettbewerb dritte geworden, im Fernsehen. Sie war jung, hatte gerade ihr Studium abgebrochen und lebte aus dem Koffer. Sie wollte groß rauskommen. Auch in den Zeitungen stehen, ihre Bilder ins Internet schicken und Millionen Menschen schauen ihr dabei zu. Ich habe Fotos von ihr gesehen. Sie war wirklich wunderschön. Blonde schwere Locken, große blaue Augen, ein Mund wie eine dicke Kirsche, rund und rot, weiße gerade Zähne. Sie sah damals aus wie die perfekte Puppe. Mein Vater sagt, als sie reinkam, wurde die Musik lauter und das Licht heller. Er war sofort verliebt und wollte nichts anderes. Nur sie.
Wie meine Mutter das sieht, weiß ich nicht so richtig. Sie will darüber nicht reden. Das macht sie traurig, über früher reden, sagt sie. Ich glaube, sie ist zu traurig über all das, was weg ist. All das von dem sie geträumt hat und das dann nicht passiert ist. Berühmt ist sie auch nicht geworden. Dafür hat sie meinen Vater und mich bekommen. Ich glaube, mit dem Tausch war sie nicht glücklich. Über mich will sie auch nicht reden. Und jetzt ist sie weg.
Ob ich auch mal jemanden kennenlerne, der die Musik lauter macht und das Licht heller?
Die Schneckenfarm stresst mich irgendwie. Die Heuschrecken auch. Dieses Gewusel. Sie krabbeln und kriechen übereinander, die Heuschrecken fressen sich auch manchmal gegenseitig. Glaube ich jedenfalls. Manchmal liegen nämlich einzelne Beine herum. Und wo soll der Rest sonst sein? Es sind ja nur Heuschrecken darin. Und Futter. Und auch wenn Papa sagt, die merken nichts, die sind nur Proteine auf Beinen mit einfachen elektrischen Informationsstrecken. Sie wollen raus. Das merke ich. Sie kratzen mit ihren Beinchen am Glas, kriechen ganz hoch, bis sie wieder runterfallen, weil es auch dort kein entkommen gibt. Den Heuschrecken macht das nichts. Für die Schnecken ist das schlimmer. Sie zerschlagen sich dabei die Häuser.
Die Schnecken machen wenig Geräusche, die Heuschrecken umso mehr. Es ist gar nicht das zirpen. Sie zirpen gar nicht so viel. Aber ihre harten Körper klackern ganz leise, wenn sie übereinander kriechen, auf der Suche nach einem Ausweg. Und ihre Münder. Diese Scheren darin. Ich glaube, die machen auch Geräusche. So ein Schaben. Oder Kratzen. Ganz leise. Aber immer da.
Manchmal träume ich von ihnen. Vor allem von den Heuschrecken, von ihren Köpfen, die wie losgelöst am Körper schweben. Sich drehen, hin und her, die Fühler immer auf der Suche, die Augen auf mich gerichtet, ich weiß gar nicht, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Und die Zangen gehen auf und zu, als wollten sie sich durchs Glas fressen, Molekül für Molekül die durchsichtige Masse abschaben, bis sie zu mir können, nachts, und bei mir weitermachen, meiner Haut, meinem Fleisch.
Die Stürme machen mir Angst. Wenn der Wind am Dach zerrt, als wolle er das Haus aus der Erde reissen und mitnehmen. Dann beginnt es zu Knacken und zu Qietschen im Haus. Fast als ob es lebendig wäre. Als ob es Schmerzen hätte. Und ich denke dann immer: Dieses Mal hält es das nicht mehr aus. Dieses Mal bricht es zusammen. Papa hat immer gesagt, das wird nicht passieren. Er habe das beim Bau berechnet. „In diesem Haus steckt mehr Stahl als im Eiffelturm“ hat er immer gesagt. Er ist trotzdem immer in den Keller mit uns gegangen, wenn ein Sturm kam. Und es ist auch ein blöder Satz. Der Eiffelturm steht ja schon lange nicht mehr
1. Das Haus
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