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  • sarahraich

Das Erbe der Gewalt



Es ist ein Anfang. So hieß es am Wochenende im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Der Satz stand im Vorlauf zu der Vorstellung Schwarzer Autoren. Eine ganze Seite. Der begehrte „Aufmacher“ des Feuilletons. Hurra! Endlich Sichtbarkeit. Wie großartig! Oder?

„Ein Bild von einem Mann“, titelt das Süddeutsche Magazin aus demselben Haus einen Tag vorher. Es wird der Maler Daniel Richter vorgestellt, der ganze Schaffensprozess eines Bildes, vom ersten Pinselstrich bis zum Aufhängen in der Galerie. Was es sonst im Heft gibt? Ex-Verleger und Dichter Michael Krüger schrieb Episode 12 seines Corona-Dings (was das genau sein soll, weiß ich nicht). Darauf folgt ein Heft voller weißer Männer im Mittelpunkt. Die einzige Ausnahme ist die Kolumne von Johanna Ardojàn.

An diesem Sonntag hatte übrigens eine der bedeutendsten deutschsprachigen SchriftstellerInnen Geburtstag, Marlene Streeruwitz. Und sie bekam kürzlich einen wichtigen Literaturpreis. Üblicherweise ist das schon eine halbe Seite im Feuilleton wert. Herr Enzensberger kriegte für seinen 90. Geburtstag in einigen Zeitungen eine ganze. Marlene Streeruwitz wurde weitgehend ignoriert. (Ein sehr gutes Interview hat Nicole Seifert mit ihr geführt, veröffentlicht auf ihrem Blog.)

Einige LeserInnen verdrehen jetzt sicher die Augen. Schon wieder dieses Gejammer. Beklagen Frauen, Schwarze und People of Colour sich womöglich zu Unrecht fehlende Sichtbarkeit? Ein Heft über Frauen gehört bei Zeitungen fast schon zum guten Ton. Und die Liste mit den Schwarzen AutorInnen, das ist doch toll? Die Gesellschaft, die sich Mehrheitsgesellschaft nennt und von weißen Männern dominiert ist, räumt immer öfter Platz für „die Anderen“. Tun weiße Männer nicht also wirklich viel für andere?

Die weißen Männer entscheiden, wer reindarf


Nein. Das tut ihr nicht. Denn wir reden noch immer unter vollkommen falschen Voraussetzungen über Beteiligung. Frauen, Schwarze und People of Colour müssen noch immer beweisen, dass sie einen Platz am Tisch verdient haben. Die Frage ist in Wahrheit aber eine andere: Liebe weiße Männer, habt IHR den Platz verdient, an dem ihr sitzt? Wie seid ihr eigentlich dahin gekommen, wo ihr jetzt seid?

Bisher läuft es ja mit der gleichberechtigten Repräsentation vor allem so: Wir weniger Repräsentierten beschweren uns, dass ihr uns nicht genug Raum gebt. Manchmal werden wir für diese Beschwerde ignoriert, manchmal abgewatscht, manchmal großäugig angeschaut und gefragt: Ja, wie sollen wir denn, da ist doch keine(r)?! Ab und zu gibt es auch sehr ernste Reaktionen: Ja, da sollten wir wirklich an uns arbeiten.

Das ist alles unterschiedlich sympathisch bis unsympathisch – in einer Sache sind sich alle Reaktionen gleich. Das Machtgefälle bleibt. Ihr weißen Männer entscheidet, wer rein darf. Und das stellt ihr auch keine Sekunde in Frage. Ihr bestimmt, wer mitspielt, auf wieviel Raum und für wie lange.

Dabei müsst ihr weißen Männer vor allem eines fragen: Bin ich hier zu Recht? Wem habe ich eigentlich diesen Platz weggenommen? Darauf kommt gern eine Antwort, die im Prinzip besagt, dass es eben nicht genug Schwarze und People of Colour mit entsprechenden Qualifikationen gäbe und das Frauen dann irgendwann halt Kinder kriegen – oder sonst einfach wieder gehen. Und damit haben dann viele weiße Männer, auch die so genannten liberalen, aufgeklärten, das Gefühl, sie haben genug getan.

Ihr fahrt die Ernte der Gewalt ein


Nein, habt ihr nicht. Denn den Platz, den ihr weißen Männer jetzt habt, den habt ihr aufgrund eines Systems, das seit Jahrtausenden Bestand hat. Jeder, der kein weißer Mann ist, hat sich seinen Platz trotz dieses Systems ertrotzt und erkämpft.

Und jetzt wollen wir mal ganz ehrlich sein. Gehen wir dahin, wo es richtig weh tut: Ihr habt euren Platz aufgrund von Gewalt. Nein, nicht ihr persönlich habt den Baseballschläger herausgeholt und ein paar Schwarze, Frauen oder People of Colour verprügelt, damit ihr euer Eckbüro bekommt, euren Chefposten, oder euer gut gefülltes Bankkonto. Nein, vermutlich seid ihr sogar Pazifisten und versucht euch vielleicht sogar in gewaltfreier Kommunikation. Das mag sein. Aber ihr fahrt die Ernte der Gewalt ein. Die Ernte von Jahrtausenden von körperlicher, psychischer, verbaler, finanzieller und struktureller Gewalt. Die Position, die ihr jetzt habt, beruht unter anderem darauf, dass eure Vorgänger Schwarze für minderwertig erklärt haben. Dass sie sich das Recht rausnahmen, sie zu versklaven, zu töten, sie zu entmenschlichen.

Die Position, die ihr jetzt habt, beruht darauf, dass eure Vorgänger sich das Recht herausgenommen haben, Nationen zu kolonisieren und mit Krieg und Vernichtung zu überziehen und ihnen ihre Ressourcen zu rauben, weil die Bevölkerung nicht weiß war.

Eure Vormachtstellung beruht darauf, dass eure Vorgänger People of Colour eingeladen haben in euer Land zu ziehen und die Arbeit zu machen, auf die Weiße keine Lust hatten, die aber gemacht werden musste.


Eure Vormachtstellung beruht darauf, dass eure Vorgänger Gesetze erlassen haben, die Frauen ihre Rechte genommen haben, sie für unmündig und dumm erklärten. Gesetze, die es erlaubt haben seine Frau zu schlagen und zu vergewaltigen. Zur Erinnerung: Die Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997 unter Strafe gestellt. Bis vor gut 20 Jahren war es also gesetzlich vorgesehen, dass eine Ehefrau für die Befriedigung ihres Mannes entmenschlicht und benutzt werden konnte. Mit einem solchen Gefälle ist jede Art von echter Gleichberechtigung undenkbar.

Einer der Männer, die dieses Recht des Mannes, seine Ehefrau zu benutzen, unbedingt behalten wollte, wird heute allen Ernstes als möglicher CDU-Vorsitzender gehandelt. Und ein Aufschrei weißer Männer über diesen Umstand war da nicht zu hören. Es wurde nicht mal in größerem Rahmen darüber geredet.

Jede Änderung an dem Status Quo, der Vormachtstellung des weißen Mannes und seinem Konstrukt von der Welt, wurde von Marginalisierten erstritten. Gegen viele Widerstände, unter großen Opfern.


Wir leben in einem System, das für die Bedürfnisse weißer Männer gebaut wurde


Weiße Männer haben die ganze Welt unterjocht. Und die heutigen weißen Männer profitieren bis zu diesem Moment davon. Denn während alle anderen ihre Wunden leckten und versuchten, ihren Platz zu erobern, blieben ja die alten Herren an ihren Plätzen und wurden die neuen Herren. Schwarze und People of Colour wurden etwa als dumm und faul gebrandmarkt. Frauen wurden abgetan als schwach, ängstlich und auch geistig natürlich unterlegen. Die explizite Unterdrückung durch Gesetze wich der impliziten, dem strukturellen Rassismus und Sexismus. Und aus diesem absoluten Vorsprung heraus starten weiße Männer noch immer in ihr Leben. Wir leben bis heute in einem System, das für die Bedürfnisse und Belange von weißen Männern gebaut wurde. Das ist euer Erbe. Je weiter oben in der gesellschaftlichen Hierarchie ihr steht, desto mehr profitiert ihr. Desto mehr beruht Euer Platz darauf, dass ihr ihn einem anderen genommen habt. Wenn ihr einen Chefposten habt, den Schwarze, People of Colour und Frauen äußerst selten haben, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass ihr ihn unter wirklich fairen Voraussetzungen nicht bekommen hättet. Rein rechnerisch stünden euch etwa 40 Prozent der Führungspositionen zu. Ein Beispiel aus den Medien: Laut Pro Quote haben über 90 % der regionalen Zeitungen einen männlichen Chef. Ich lehne mich jetzt aus dem Fenster und prognostiziere, dass davon kaum einer einen so genannten Migrationshintergrund hat. 90 % statt 40 %.

Ja, da könnt ihr persönlich im Zweifel nichts dafür. So wie jeder Marginalisierte nichts dafür kann, dass die Dinge so sind wie sie sind.

Und so befördert ihr manchmal eine Frau, kauft vielleicht auch mal ein Buch von einem Schwarzen, ihr findet Hans Sarpei cool und vielleicht setzt ihr euch auch für Flüchtlinge ein. Aber sonst nehmt ihr weiter euren Platz ein, von dem ihr glaubt, dass ihr ihn verdient hättet. Nein, ihr denkt vermutlich noch nicht einmal darüber nach, zweifelt nicht eine Sekunde daran, ob ihr wirklich zu Recht an den Hebeln der Macht sitzt, ob nun an den kürzeren oder den längeren.


Ihr reproduziert weiter den Mythos des männlichen Genies und fragt nicht, wer dafür verdrängt wurde. Ihr bejubelt Goethe, Shakespeare und Kant, findet Jörg Fauser und Thomas Bernhard cool, erstarrt vor Ehrfurcht vor Bach, Mozart und Philip Glass und denkt nicht eine Sekunde daran, welche Schwarzen, People of Colour oder Frauen vielleicht ebenso großartig waren, aber einfach in den Abgrund des Vergessen gedrängt wurden. Oder, noch bitterer, nicht einmal die Chance bekamen, ihre Potenziale zu entfalten.

Warum ändert ihr nichts? Weil es euch in den Kram passt? Weil alles andere zu anstrengend ist? Ihr glaubt, es ist die Aufgabe der Marginalisierten etwas zu ändern, sich irgendwie anzupassen, in das System, das für euch geschaffen wurde.

So lange ihr euch so verhaltet, so lange ihr euch und eure Position nicht hinterfragt, wirklich hinterfragt, so lange reproduziert ihr Sexismus und Rassismus. Jeden Tag.

Ist es das, was ihr wollt? Ihr seid dann, genau genommen, nur die weichgespülte Version des weißen Patriarchen aus dem 19. Jahrhundert. Nein, das ist nicht zu hart. Das ist die Wahrheit.

Euch sollte jeden Tag die Frage treiben: Wie stelle ich mich meiner Verantwortung als Erbe von Jahrtausenden der Gewalt?

Natürlich, wir haben eine Ist-Situation. Etwa mit unterdurchschnittlich vielen Schwarzen und People of Colour mit Universitätsabschlüssen. Mit berühmten alten weißen Männern, die vielleicht eigentlich mittelmäßig sind, aber jetzt eben schon berühmt sind – ergo wird fleißig weiter über sie geschrieben – oder sie dürfen sich weiter ergießen und ihre Musik, ihre Bücher, ihre Filme, ihre Gedanken werden weiter vervielfältigt, egal ob diese Ergüsse es überhaupt wert sind. Egal, was für fragwürdige Positionen sie einnehmen, diese angeblichen Ikonen werden weiter hochgehalten. Weil sie ja nun mal berühmt sind. Ja, sogar offener Sexismus und Rassismus werden selten geahndet. Auch verurteilte Vergewaltiger bekommen Preise und Festschriften zum Geburtstag.

Wir haben eine Ist-Situation mit einer Arbeitswelt, die so aufgebaut ist, dass weiße Männer darin emporschwimmen, wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser, während Schwarze, People of Colour und Frauen darin um ihr Überleben strampeln. Einen sehr schönen Artikel zur Absurdität der Situation der Frauen in einer männlichen Arbeitswelt hat übrigens Vera Schroeder in der Süddeutschen Zeitung geschrieben und das wunderbare Bild gefunden von Katzen, die in einer Hundewelt arbeiten sollen und denen gesagt wird, es sei doch alles ganz easy, sie sollten einfach mit dem Schwanz wedeln und Bellen lernen.

je mehr Geld ihr habt und je mehr Macht, desto größer ist eure Verantwortung


Die aktuelle Situation nimmt euch in die Pflicht. Gebt prominente Plätze an Schwarze, People of Colour und Frauen. Und zwar nicht als Goodie von euren Gnaden. Sondern als Prinzip. Eure Konferenz sollte nicht irgendwie vielleicht eine Quotenfrau enthalten. Euer Ziel sollte umfassende Diversität sein. Und wenn ihr die nicht erreicht habt, dann habt ihr euch noch nicht genug bemüht.

Ihr könnt das alles auch lassen. Natürlich. Aber dann seid ihr eben, so hart muss man es wohl mal sagen, Rassisten und Sexisten. Nicht die unangenehmen, die eine Hakenkreuzflagge schwenken und Frauen begrapschen. Aber ihr stützt das System, aus dem diese hässlichen Auswüchse entstehen. Das System, das bei der AfD und PeGiDa von besorgten Bürgern faselt, die man ernst nehmen müsse, und bei randalierenden Jugendlichen die volle Härte des Gesetztes fordert.

Wollt ihr Teil davon sein? Nein? Dann an die Arbeit, liebe Männer. Ihr habt viel zu tun. Je weiter oben ihr steht, je mehr Geld ihr habt und je mehr Macht, desto größer ist eure Verantwortung.

Erfolgreiche weiße Frauen als Stütze des Systems


So, liebe weiße Frauen. Vielleicht habt ihr bis hierher wild nickend mitgelesen und innerlich geschrien: JA! GENAU! SO IST ES! ES IST SO GEMEIN!

Sorry to ruin the party: Wir haben auch sehr viel zu tun. Ja, wir haben auch alle unter struktureller Benachteiligung zu leiden, viel zu viele von uns haben Gewalt und sexuelle Übergriffe erlebt. Aber wir sind auch Nutznießerinnen des weißen patriarchalen Systems. Vor allem, wenn wir uns an ein paar Regeln halten, damit die Jungs uns mitspielen lassen. (Bei Editionf habe ich ausführlicher dazu geschrieben. )

Und es gibt zu viele von uns, die das aktuelle System mittragen. Ich habe das bis vor ein paar Jahren auch getan und viel zu wenig reflektiert, was meine Verantwortung ist. Ich bemühe mich nun jeden Tag, das zu ändern. Es wird eine lebenslange Aufgabe.

Jede Einzelne hat viel zu tun, je weiter es eine weiße Frau nach oben geschafft hat, desto mehr. Leider hapert es oft gerade da. Ein Beispiel: Die wichtigsten Talkshows dieses Landes werden von Frauen geführt. Das ist ja schön. Vor 20 Jahren hat mich das auch gefreut. Diese Sendungen zeichnen sich aber bisher vor allem dadurch aus, dass sie den Status Quo aufrechterhalten und einen weißen männlichen Gäste- und-Diskurszirkus pflegen – mit den Sprengseln Diversität, die es heutzutage eben braucht, um einen Anschein von Modernität zu erwecken. Bis hierhin sind diese Vorreiterinnen also vor allem Steigbügelhalterinnen. Ähnlich verhält es sich mit vielen prominenten Frauen, die sich wenig für Diversität einsetzen, sondern, so scheint es, sich ihr Fleißbienchen nicht ruinieren wollen. Schließlich haben sie es geschafft in einer Welt, die eigentlich nicht für sie gemacht ist. Ja, und das ist auch in jedem Fall eine Leistung. Jede(r) Marginalisierte, der es in eine Führungsposition geschafft hat, hat Überdurchschnittliches geleistet. Aber wenn es dabei bleibt, wenn wir unsere Privilegien, unseren Erfolg nicht dafür einsetzen, dass sich die Situation auch für andere ändert, dann ist das vor allem eines: Besitzstandswahrerei. Man gehört dann zu den Fleißigen, zu den harten KämpferInnen. Aber man ist halt ein(e) OpportunistIn. Im besten Fall. Im schlechtesten eine Rassistin und Sexistin. Denn natürlich können auch Frauen Sexistinnen sein.

Auch wir, liebe privilegierte Frauen, haben viel zu tun. Lasst uns anfangen. (Ein paar Vorschläge, was zu tun ist, gibt es bei Editionf)

P.S. In diesem Text hat die Süddeutsche Zeitung viel abbekommen. Was ein bisschen lustig ist, denn sie ist mir grundsätzlich sympathisch. Aber sie ist eben auch immer wieder Anlass zu großem Ärger. Bei der Süddeutschen Zeitung ist auch das Gefühl sehr ausgeprägt, doch eigentlich auf der Seite der Guten zu stehen und die Problembären wo anders zu sehen. Und das ist tatsächlich nur eingeschränkt berechtigt.


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